Wie erkenne ich gute philosophische Literatur?
Allen denjenigen, die Lust auf mehr Lektüre haben, möchte ich hier ein paar Hinweise geben, um sich im unendlichen Dickicht der philosophischen Literatur zurecht zu finden.
Originaltexte
Zunächst möchte ich euch alle ermutigen, euch an Originaltexte heranzutrauen! Das heißt, die Texte der berühmten Philosoph*innen (und auch der weniger berühmten) selbst zu lesen. Das ist möglich!
An anderer Stelle habe ich schon darauf hingewiesen, dass das Besondere an der Philosophie ist, dass sie, obwohl einerseits auch Fachwissenschaft, eben andererseits eine unmittelbare und damit auch zugängliche geistige Tätigkeit ist, für die man oft nur wenig Vorwissen braucht, weil die Argumente aus sich heraus, aus logischen Strukturen und Alltagserfahrungen entwickelt werden.
Das heißt, man kann sich einen Platon-Text nehmen, der immerhin 2500 Jahre alt ist, und man kann ihn verstehen. Vielleicht nicht in jedem Detail, aber eben doch in der grundsätzlichen Argumentation.
Größtes Hindernis für das Verständnis ist oft nicht der Argumentationsgang, sondern der historische Hintergrund, der von uns so weit entfernt ist. Deshalb kennen wir nicht unbedingt die Philosophen, auf die sich Platon z.B. bezieht und verstehen bestimmte Bezüge nicht unmittelbar – etwa wenn es um Alltagsgepflogenheiten oder gesellschaftliche Beziehungen geht. Wenn man sich hier richtig versenken will, kann man natürlich Einführungsliteratur hinzuziehen, Kommentare lesen. Dann ist man auf dem besten Weg zum Universitätsstudium. Das ist aber, wie gesagt, oft nicht nötig. Oft kann man sich von der Unmittelbarkeit des Textes auch ganz einfach verzaubern lassen.
Wichtig ist dafür natürlich, einen Text zu wählen, der eine*n thematisch anspricht. Und eine Länge hat, die für eine*n bewältigbar ist. (Daher ist Platon tatsächlich keine schlechte Wahl, denn er deckt eine Vielzahl sehr unmittelbar begreiflicher philosophischer Themen ab und viele seiner Dialoge sind nicht so schrecklich lang.)
Einen Überblick über das philosophische Werk einer Person findet man häufig in sehr gut aufbereiteter Form bei Wikipedia. Da kann man natürlich auch gleich nachlesen, was die Hauptaussagen eines Werks sind – aber vielleicht traust du dich auch an den Originaltext heran.
Manchmal beeinträchtigt auch die sprachliche Verfasstheit das Verständnis eines Textes. Auch das ist zum einen eine Folge der langen Philosophiegeschichte: Sprache verändert sich und das betrifft auch Übersetzungen. Die klassische Platon-Übersetzung, die heute noch viel genutzt wird, stammt beispielsweise von Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Sie ist also gut 200 Jahre alt und das merkt man der Sprache an.
Welche Übersetzung man wählt, kann also auch einen Ausschlag dafür geben, wie gut verständlich ein Text für uns ist. Ich würde grundsätzlich empfehlen, eine möglichst neue Übersetzung zu nutzen. Aber letztlich ist immer das gut, von dem ihr das Gefühl habt, dass es sich gut liest. Hier gibt es zwar auch Qualitätsunterschiede, aber die sind oft eher für die Forschungsarbeit relevant als für Menschen, die sich privat für Philosophie interessieren.
Für die Abschätzung der Übersetzungsqualität kann es auch helfen, sich anzuschauen, in welchem Verlag ein Werk erscheint. Es gibt einige einschlägige Wissenschafts- und Philosophieverlage, bei denen man sich sicher sein kann, dass man hochwertige Übersetzungen und sorgfältige Editionen bekommt. In meinem Bücherschrank stammen die meisten Originaltexte von den Verlagen Meiner und Suhrkamp. Meiner ist ein reiner Philosophie-Verlag, der insbesondere auch bei älteren Texten und Übersetzungen mit sehr viel Sorgfalt zu Werke geht. Diese Ausgaben sind auf einem Niveau, das sie eben auch für die Fachwissenschaft geeignet macht.
Gerade bei neueren Autor*innen, also aus diesem und dem letzten Jahrhundert, ist es meist eine Frage der Rechte: Die Landschaft der Wissenschaftsverlage ist groß, ebenso haben viele große Verlage eine Wissenschaftssparte – und je nach Vertragsschluss wird in verschiedenen Verlagen veröffentlicht. Auch hier kann die Wikipedia helfen, in der meist recht vollständige Bibliographien zu finden sind.
Noch ein paar Worte zur „Geheimsprache“: Ja, das gibt es. Es gibt philosophische Texte, die eine so spezielle Terminologie verwenden, dass man kaum eine Chance hat, sie zu verstehen ohne eine „Übersetzungshilfe“. Es liegt also nicht unbedingt an euch, wenn ihr bei einem Text nur „Bahnhof“ versteht.
Eine solche spezielle Terminologie kann ihre Berechtigung haben, wenn es z.B. um einen sehr speziellen Fachdiskurs geht. Es kann aber auch sein, dass es sich ganz unerhörte, neue Ideen handelt, für die es noch keine guten Begriffe gibt – sie müssen also von der Philosophin (dem Philosophen) entwickelt werden.
Auch hier gilt wieder: Nur Mut! Wenn Philosoph*innen ein neues Konzept entwickeln, sollten sie es ordentlich einführen. Das heißt, oft werden die komplizierten Begriffe am Anfang oder im Laufe des Buchs erläutert – zumindest dann, wenn wirklich in dem Werk neue Konzepte eingeführt werden. Es lohnt sich also, vorher etwas zu recherchieren, welches Buch für den Einstieg in eine Philosophie geeignet sein könnte.
Und außerdem und überhaupt empfehle ich: reinlesen, bevor ihr ein Buch kauft! Also ein bisschen blättern, das Inhaltsverzeichnis prüfen: Interessiert es mich, wie das Thema angegangen wird? – das erkennt man manchmal am Inhaltsverzeichnis; ein paar Seiten lesen: Spricht mich die Sprache, die Herangehensweise an, kann ich verstehen, was die Autorin (der Autor) von mir will?
Es gibt wirklich große Unterschiede, was die Zugänglichkeit von Philosophien betrifft. Es ist also sehr sinnvoll, zu stöbern, um herauszufinden, was euch interessiert und liegt.
Denn es soll ja schließlich vor allem Spaß machen! Und je mehr Lesekompetenz man entwickelt, desto eher traut man sich vielleicht auch an ein Buch heran, das auf den ersten Blick kompliziert wirkt.
Einführungstexte
Wenn ihr es sehr strukturiert angehen wollt, könnt ihr auch Einführungsbücher zu bestimmten philosophischen Strömungen oder einzelnen Philosoph*innen hinzuziehen. Gerade wenn viel Spezialterminologie in einem Text steckt oder wenn das Œvre einer Philosophin (eines Philosophen) groß und unübersichtlich ist, kann das helfen, einen Einstieg zu finden.
Man darf aber nicht vergessen, dass jede Einführung eine Interpretation ist. Sie schiebt sich zwischen euch und den Text und die Unmittelbarkeit, mit der man sonst an einen Text herangehen und ihn auf eine ganz eigene Weise verstehen würde, ist dahin. Zumal es in der Philosophie ganz oft nicht nur eine „richtige“ Deutung oder eine richtige „Übersetzung“ eines Fachterminus gibt, sondern vieles auch eine Frage der Entscheidung ist, wo man den Schwerpunkt legt.
Aber man kann es ausprobieren, jede*r muss schließlich ihren*seinen eigenen Zugang zur Philosophie finden.
Wenn ihr euch denn entscheidet, euch „Sekundärliteratur“ zu besorgen – so heißt das fachsprachlich –, gibt es verschiedene Wege.
Einführungen in einen Autor oder ein Thema
Es gibt Bücher, die heißen „Platon zur Einführung“ oder ähnlich. Diese geben einen Überblick über das Gesamtwerk. Dann gibt es auch Bücher wie „Einführung in Platons Ethik“ – also zu einem Teilbereich des Werkes. Oder nach der Art „Platon für Pädagoginnen“ – das führt aus der Perspektive einer anderen Fachwissenschaft in das Werk ein.
Außerdem gibt es Überblicks-Einführungen. „Einführung in die Ethik“ „… in die Sprachphilosophie“ „… in den Pragmatismus“ – Das deckt also sowohl verschiedene philosophische Ansätze bzw. Epochen (Pragmatismus, Phänomenologie, antike Philosophie…) als auch bestimmte Teilbereiche (Ethik, politische Philosophie, Philosophie des Geistes…) ab. Ein solches Buch kann natürlich hilfreich sein, um sich einen Überblick zu einem Thema zu verschaffen.
Einführungswerke haben in der Regel eine ausführliche Bibliografie, sodass man sowohl Hilfe dabei hat, sich in den Originaltexten zurechtzufinden, als auch weitere Sekundärliteratur findet.
Es gibt verschiedene Reihen für philosophische Einführungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Tatsächlich variiert die Qualität und Lesbarkeit dieser Werke sehr stark, sodass man genau hinschauen sollte, bevor man ein solches Buch erwirbt.
Sehr gute Erfahrungen habe ich seit meinem Studium mit der Einführungsreihe des Verlages Junius gemacht: Das sind kompakte, in der Regel gut lesbare, übersichtliche Einführungen, die eine gute Orientierung in der jeweiligen Thematik bieten und die man auch immer wieder zur Hand nehmen kann, wenn in den Originaltexten etwas unklar ist.
Kommentare
Wenn ihr den Ehrgeiz habt, einen Originaltext gründlich zu durchdringen, könnt ihr euch zusätzlich oder statt einer Einführung einen Kommentar besorgen. Hier bewegen wir uns dann allerdings wieder sehr weit ins Fachstudium hinein. Wen das interessiert, der*die sollte darüber nachdenken, an einer Universität ein Philosophiestudium zu beginnen.
Das spricht aber nicht dagegen, sich trotzdem einen Kommentar zu besorgen. Kommentare beziehen sich immer auf ein klassisches philosophisches Werk und erläutern es zum Teil sehr detailliert. Bei Reclam z.B. gibt es neben den Literaturkommentaren, die manchmal auch im Deutschunterricht genutzt werden, auch ein paar philosophische Kommentare.
Manche hochwertige Editionen von Originaltexten enthalten ebenfalls schon sehr ausführliche Kommentare im Anhang – in Form von Endnoten und/oder als einführender Text. Das kann manchmal für das Verständnis des historischen Hintergrunds, literarischer Bezüge und spezieller Termini schon helfen.
Wer eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit einem Text sucht, kann sich an die Reihe „Klassiker Auslegen“ des Akademie-Verlags wagen. Dabei handelt es sich um Sammelbände, in denen Aufsätze zu verschiedenen Themen/Aspekten eines klassischen Werkes zusammengestellt sind. Das sind dann wissenschaftliche Aufsätze, weniger eine Interpretation Kapitel für Kapitel. Oft sind auch einige englischsprachige Texte in den Bänden enthalten.
Philosophische Einführungen
Eine Sonderstellung unter den Kommentaren und Einführungen nehmen diejenigen Bücher ein, die selbst von namhaften Philosoph*innen verfasst wurden. (Die Grenzen sind hier selbstverständlich fließend – ab wann ist jemand „namhaft“?) Karl Jaspers etwa hat eine Vielzahl an philosophiehistorischen und Einführungswerken verfasst.
Jeder Kommentar, jede Einführung ist auch eine Deutung, das ist klar. Bei Philosoph*innen mit eigenem relevantem Werk kann dies noch deutlicher zutage treten: Dann ist eine Einführung zwar eine Einführung, aber gleichzeitig kann viel von der Philosophie der Verfasserin (des Verfassers) darin stecken. Das kann unheimlich anregend sein, dann was man dann hat, ist eine lebendige philosophische Auseinandersetzung. Insofern kann ein solcher Text sogar sehr viel philosophischer und literarisch ansprechender sein als ein Einführungstext, der sich an Studienanfänger*innen oder Laien richtet. Man sollte aber die besondere Autorin (den Autor) im Hinterkopf behalten.
Lexika und Fachtexte
Von Lexika bin ich ein großer Fan. Ich mag die gedrängte Information und die Hinweise, wo ich weitere Informationen finden kann. Wenn euch so etwas anspricht: nur zu! Die Wikipedia ist definitiv eine Schatzkammer der Information, auch der Philosophie.
Hier gilt natürlich wie bei jedem Medium, insbesondere den elektronischen, dass Medienkompetenz gefragt ist. Es ist immer gut, Informationen, die wirklich wichtig sind, in einer zweiten Quelle zu verifizieren – idealerweise dort, wo ich weiß, dass es eine Qualitätskontrolle des Veröffentlichten gibt (bspw. in wissenschaftlichen oder anderen renommierten Verlagen). Wenn ich mir Informationen zu einem philosophischen Text besorge, kann ich natürlich auch am Original prüfen, ob ich die Einschätzungen des Artikels teile.
Denn auch in Lexika gilt es, die Perspektivität im Hinterkopf zu behalten: Lexika bemühen sich natürlich, die Informationen möglichst wertungsfrei zur Verfügung zu stellen. Aber was für wichtig genug erachtet wird, veröffentlicht zu werden und welches Publikum angesprochen werden soll, bestimmt eben auch das Ergebnis. Und ein Lexikon der Soziologie wird ganz andere Schwerpunkte setzen als eines der Pädagogik oder eines der Philosophie – auch wenn dort zum Teil dieselben Stichworte vorkommen werden.
Wenn ihr Zugriff auf eine wissenschaftliche Bibliothek habt, schaut doch mal in das „Historische Wörterbuch der Philosophie“. Das ist ein 13-bändiges Lexikon, das die philosophische Begriffsgeschichte einer riesigen Zahl von Begriffen beinhaltet. Bspw. wird die philosophische Deutung des Begriffs „Freiheit“ von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein nachgezeichnet, mit einer Vielzahl von Namen und Literaturhinweisen.
Auch Fachzeitschriften und Fachtexte könnt ihr natürlich lesen, wenn euch ein Thema interessiert. Da ist die Zugänglichkeit für Laien sehr unterschiedlich und ich möchte keine generellen Empfehlungen geben. Am besten findet ihr euch vermutlich in der Literatur zurecht, wenn ihr eine wissenschaftliche Bibliothek nutzt – das sind oft Bibliotheken, die an Universitäten oder Forschungseinrichtungen angegliedert sind, aber auch die Staats- und Landesbibliotheken sind wissenschaftliche Bibliotheken.
Dort gibt es meist auch Einführungen in die Nutzung und Hilfestellung bei der Literaturrecherche. Ihre Benutzung ist ungewohnt, wenn man nur öffentliche Bibliotheken kennt, denn die Literatur steht zum großen Teil nicht in den Lesesälen bereit, sondern ist in Magazinen untergebracht. Nutzer*innen müssen also die Bücher in einem Katalog heraussuchen, sie bestellen und dann später abholen. Die Bücher können entweder in den Lesesälen genutzt werden – dort stehen in der Regel Arbeitsplätze zur Verfügung – oder mit nach Hause genommen werden.
Sachliteratur zum Thema Philosophie
Neben Originaltexten und der Fachliteratur gibt es auch noch philosophische Sachbücher. Sie sind für ein interessiertes Laienpublikum geschrieben und setzen daher kein oder kaum Vorwissen voraus. Die Spannbreite dieser Literaturgattung ist riesig und hier kann ich erst recht keine Empfehlungen abgeben: Sie changieren zwischen Fachphilosophie und Unterhaltung, manchmal haben sie auch eine Schlagseite in Richtung Ratgeberliteratur.
Natürlich ist es gar nicht so einfach, zu vereinfachen ohne zu verkürzen. Manchen gelingt die Reduktion auf’s Wesentliche gut, anderen weniger.
Wenn ihr ein philosophisches Sachbuch in die Hände bekommt, solltet ihr euch vielleicht fragen: Regt es mich zum Selbstdenken an? Ermöglicht es das Mitdenken, ohne viel vorauszusetzen? Und überzeugen mich die Argumente, die die Autorin (der Autor) vorbringt?
Wenn euch ein Buch in dieser Weise dazu anregt, sich mit ihm auseinanderzusetzen, dann seid ihr mitten drin im Philosophieren!
Beitrag teilen
Wenn du auf einen Button klickst, wirst du an den jeweiligen Dienst weitergeleitet.
Dir hat der Text gefallen? Wenn du es dir leisten kannst, freue ich mich über eine kleine Spende!*
*Du wirst auf die Website von Paypal weitergeleitet