Warum Philosophie – und warum so?
Aufgewachsen bin ich in Berlin und Brandenburg. Tochter von Eltern, die vieles anders gemacht haben als die meisten in ihrer Generation und trotz akademischer Ausbildung nicht im klassischen Sinn auf „Karriere“ setzten. Auf die Frage, was ich einmal werden wollte, wusste ich denn auch in der Regel keine Antwort. Alles machte mir Spaß, wenn es nur mein Gehirn herausforderte und meinen Horizont erweiterte. (Welch ein Glück, dass die Schule mir das nicht ganz zerstörte!) Was sollte ich also studieren?
Irgendwie dachte ich, etwas Grundlegendes könne nicht schaden, etwas, das vielleicht eine Grundlage für weitere (berufliche) Entwicklungen legen könnte. Also Philosophie und Geschichte. Gerade noch so auf Magister, das entschied dann auch die Wahl der Uni.
Als Jugendliche hatte ich „Sophies Welt“ gelesen, zwei Mal. Beim ersten Mal fand ich die philosophischen Lektionen, von denen das Buch voll ist, furchtbar langweilig und überblätterte sie nach kurzer Zeit. Beim zweiten Mal fand ich diesen Teil des Buches am spannendsten. Trotzdem glaube ich nicht, dass mich dieses Buch zum Philosophiestudium bewegt hat. Offen gestanden: Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet Philosophie war, wofür ich mich einschrieb. Außer, dass ich eine vage Idee von möglichst umfassender Bildung im Kopf hatte, die ich mit meiner Fächerkombination zu erhalten hoffte.
An der Humboldt-Universität zu Berlin ist Philosophie wahrlich kein „Laberfach“, für das sie mancherorts gehalten wird. Ganz im Gegenteil war ich unversehens in einem der größten und renommiertesten Philosophie-Institute Deutschlands gelandet, mit einem hohen NC und einem ausgeprägten Elitebewusstsein – auch wenn mir das erst nach und nach klar wurde.
Sprachphilosophie
Das Studium machte großen Spaß: Ich belegte den Logik-Kurs, das war fast wie der Matheunterricht in der Schule. Aber plötzlich war es gar nicht mehr uncool, etwas nerdig zu sein. Insgesamt tauchte ich zuerst ein in eine bestimmte Form der Sprachphilosophie, die analytische Philosophie. In diesem philosophischen Ansatz wird versucht, durch Sprachanalyse philosophische Probleme zu lösen.
Das klingt vielleicht erst einmal weit hergeholt, ist aber eigentlich nur logisch: Wenn man es sich genau überlegt, können wir die Welt im Grunde nur durch einen Sprachfilter so wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen. Begriffe und Kategorien sind sprachlich. Woher weiß ich, dass ein Baum ein Baum ist? Warum kann ich die Dinge, die ich sehe, in „Schubladen“ einsortieren? Weil ich über eine sprachlich vorgeformte Wahrnehmung der Welt verfüge. Nur so können wir Objekte und Zusammenhänge als solche erkennen und dann auch erfolgreich handeln.
Unterschiedliche Sprachen können eine unterschiedliche Weltwahrnehmung erzeugen – oder umgekehrt auch ausdrücken. Sprachen passen sich ihren Zwecken an: In den Naturwissenschaften wird ganz anders gesprochen als an einer Kunstakademie; Menschen, die in kalten Regionen leben, haben eine andere Realität und andere Dinge, über die kommuniziert werden muss, als Menschen, die in tropischen Regionen leben. Auch so formt sich Sprache. Sprachen bilden Welten ab und erzeugen diese, denn nur über Sprache können Vorstellungen, Gedanken, Pläne, usw. weitergegeben werden.
Wenn man also in der Philosophie den Anspruch erhebt, die grundlegenden Fragen der Welt und der Menschheit zu behandeln (die Frage, was genau die Philosophie eigentlich tut, ist Gegenstand heftiger Diskussionen und wird hier bestimmt noch Thema eines eigenen Beitrags werden), dann ist Sprache der wichtigste Zugang dazu – zumal die Philosophie selbst ebenfalls sprachlich verfasst ist.
Sprachanalytische Philosophie ist streng logisch, stellenweise technisch, aber aufgrund der Allgegenwart von Sprache ein mächtiges Werkzeug zur logischen Analyse unserer Realität. In einigen analytischen Ansätzen herrscht eine große Zuversicht in die logische Erklär- und Darstellbarkeit der Welt. Die Überzeugung scheint zu sein: Wenn die analytischen Scheibchen, in die man die Welt schneidet, nur klein genug sind, dann kann man alles erklären.
Solchen Positionen gegenüber war ich immer skeptisch. Die Welt ist doch gar nicht so geordnet, wie sie die ordentliche Philosophie mit ihren Kategorien und Kriterien gern darstellt – oder?
Andererseits ist es auch reizvoll, sich vorzustellen, dass wir durch immer weitere Differenzierung und Untergliederung, durch logische Analyse immer kleinerer Aspekte der Welt tatsächlich irgendwann ein vollständiges Bild der Realität haben könnten. Die Logikerin in mir hat an solchen Vorstellungen große Freude. Aber irgendwie mag ich auch die Unordnung, die Unübersichtlichkeit; das Eingeständnis, dass es fast immer ein „ABER“ gibt. Vielleicht, weil nur eine nicht bis ins letzte Eckchen bestimmbare Welt uns ein Konzept von Freiheit ermöglicht.
Zweifel
In der Philosophiegeschichte gab es immer wieder große Debatten zu dieser Frage – ist alles bestimmbar oder nicht? Insbesondere im 20. Jahrhundert war die Verunsicherung groß: Kann es überhaupt so etwas wie Wahrheit geben? Oder ist „alles relativ“?
Obwohl die analytische Philosophie in meiner philosophischen Ausbildung einen wichtigen Teil eingenommen hat, fühlte ich mich früh in Richtung von Philosophien gezogen, die die Unübersichtlichkeit der Welt nicht wegerklären wollten. Etwa der Pragmatismus, der Wahrheit zu einem Konzept macht, das sich im Handeln bewähren muss und das nicht rein extern bestimmbar ist (etwa durch sehr intensives, abstraktes Nachdenken). Und dann stieß ich, tatsächlich zuerst in meinem Geschichtsstudium, auf Michel Foucault.
Die Kommiliton*innen, die Foucault lasen, waren wie ein Geheimclub mit einer eigenen Sprache, die ich nicht sofort verstand. Irgendetwas war an seiner Theorie anders, geradezu revolutionär, so schien es mir: Macht verstecke sich und Sprache übe Gewalt aus. Wir alle seien wie durch unsichtbare Kräfte gesteuert und würden unterdrückt, ohne es richtig zu merken. Als Feministin erschien mir das ziemlich überzeugend!
Foucault lasen die Radikalen, die, die den Verblendungszusammenhang durchschauen wollten, die alles kritisieren und alles anders machen wollten. Das war mir sympathisch.
Auch wenn mir die Theorie manchmal schwer verständlich erschien und ich mit der Zeit merkte, dass es auch bei den Foucault-Anhänger*innen oft sehr ideologisch zuging. Die wenigsten, die von Foucault redeten, hatten ihn wirklich intensiv gelesen. Sie hatten sich Brocken herausgegriffen, die ihnen weiterhalfen in ihren emanzipativen Kämpfen. Viele lasen auch die Philosophin Judith Butler, damals eine queerfeministische Ikone (inzwischen u.a. wegen ihrer Unterstützung für BDS nicht mehr ganz so anschlussfähig für linksradikale Deutsche), die einen noch sperrigeren Stil pflegt und deren Foucault-Rezeption nicht immer überzeugt.
Da war also eine Philosophie, die politisch war. Eine Philosophie, die uns als Kinder unserer Zeit versteht. Und die uns zugleich erklärt, warum nichts so ist, wie es scheint: Unser Wissen ist von Macht durchtränkt. Macht ist eine Kraft, die nicht ausgeübt wird, sondern etwas, das immer da ist und uns alle unterwirft – ebenso wie das Wissen.
Kritik
Diese Art von Philosophie wollte ich machen: Eine, die zweifelt, die versteht, dass das mit der Wahrheit eine komplizierte Angelegenheit ist; eine, die versteht, dass unser Wissen auch politisch ist und die deshalb selbst politisch wird – ohne dabei unbedingt „politische Theorie“ sein zu müssen.
Um es kurz zu machen: Dieser Debatte widmete ich auch meine Doktorarbeit, die ich unter der Betreuung von Petra Gehring in Darmstadt verfasste.
Vieles ist mir im Laufe der Jahre, während dieser intensiven Arbeit, klarer geworden. Einfach erscheint es mir aber immer noch nicht. Was ich vielleicht gelernt habe, ist Komplexität, Ambiguität und Widersprüchlichkeit auszuhalten. Ich glaube nicht mehr daran, dass es irgendwann eine vollständige und widerspruchsfreie Beschreibung der Welt geben kann, weder in der Philosophie noch anderswo. (Seit den Gödel’schen Unvollständigkeitssätzen ist dies übrigens für die Logik, die formalste Form der Philosophie, sogar belegt.)
Bedeutet das, dass jede Philosophie sinnlos wird, weil sie ihr Ziel, die Welt zu erklären, niemals erreichen kann?
Der Clou ist, dass es nicht so sehr um ein Ziel geht, sondern um eine Denkbewegung, um eine Praxis. Bildlich gesprochen: Wer Wissen und Wahrheit als Gebäude versteht, das von seinen Fundamenten her Stein für Stein aufgebaut werden muss, muss unheimlich aufpassen, dass nicht in der Mitte oder gar unten ein Stein herausgezogen wird, denn sofort kann das ganze Gebäude ins Wanken geraten. Kritik ist in einem solchen Verständnis ziemlich gefährlich.
Aber wir wollen ja kritisch sein, aufgeklärt sein, unser Weltbild immer wieder in Frage stellen!
Also sollten wir andere Bilder wählen. Für mich war es ein Aha-Erlebnis, Philosophie nicht mehr als Ergebnis von komplizierten Denkanstrengungen, als Gedankengebäude zu verstehen, an dem ich mitbaue, sondern als Tätigkeit. Als etwas, das zwar hoffentlich auch „Ergebnisse“ hervorbringt, das aber vor allem transformativ ist: etwas, das mich verändert, mein Denken verändert und vielleicht, wenn ich Glück habe, auch die Welt.
Das kritische Bewusstsein, der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Immanuel Kant als Kern der Aufklärung formuliert hat: Das ist für mich auch der Kern der philosophischen Tätigkeit.
Insofern: Es kann helfen, die alten, viel zu oft der westlichen Welt entstammenden, Männer (und sehr wenigen Frauen) zu lesen, die sich über die großen Fragen der Welt und des Daseins ihre Gedanken gemacht haben. Das kann helfen, zu verstehen, was sie umtrieb. Es kann uns in unserer eigenen Denkpraxis weiterbringen.
Wir dürfen allerdings angesichts großer Namen nicht unser kritisches Bewusstsein verlieren: Alle diese alten Philosophen waren Kinder ihrer Zeit, viele haben sexistisch, rassistisch, antisemitisch, klassistisch gedacht. Das, was sie für universell hielten, war in der Regel der Blickwinkel des weißen Mittel- und Oberklasse-Manns ihrer Zeit. Das macht ihre Philosophie nicht ungültig, zeigt aber, warum an jeder Theorie Kritik zu üben ist, dass Theorie nämlich immer auch durch ihre Entstehungszeit und -umstände geprägt ist.
Abgesehen davon ist das Besondere an der Philosophie, gegenüber anderen Wissenschaften, dass sie sehr zugänglich sein kann: Ihre Probleme können uns im Alltag begegnen. Und man braucht nicht unbedingt Kenntnis in Philosophiegeschichte, um sich eine valide Meinung zu ihnen bilden zu können. Was man benötigt, ist Diskussionsfreude, Austausch und logisches Denkvermögen.
Deshalb: Philosophie als Praxis. Und Philosophie für alle. Denn wir alle können Philosophie, sobald wir unsere Muttersprache beherrschen und beginnen, selbständig zu denken.
Beitrag teilen
Wenn du auf einen Button klickst, wirst du an den jeweiligen Dienst weitergeleitet.