Feminismus – Teil 2


Das Thema Feminismus beschäftigt mich schon mein Leben lang. Eins der vielen Dinge, in denen sich die Benachteiligung von Frauen zeigt: Man muss nicht Feministin sein. Aber wenn man für sich selbst Gleichberechtigung will, muss man sich politisch positionieren. Die Gleichberechtigung wird uns bis heute nicht einfach „gegeben“ – auch wenn Feministinnen der letzten Jahrzehnte viele wichtige Erfolge errungen haben.
Daher habe ich mich intensiv mit einigen philosophischen Aspekten des Feminismus befasst. Dieser Text ist aber derartig ausgeufert, dass ich mich entschieden habe, ihn in kürzere Stücke zu teilen und nach und nach zu veröffentlichen. Hier also der zweite Teil einer vierteiligen Serie.


Gibt es ein „Wesen der Frau“? Positionen aus der zweiten Welle

Wir haben es also beim Feminismus zum einen mit einer Verschränkung von Erkenntnisinteresse und politischem Kampf zu tun. Zum anderen haben wir es mit einander überlagernden und durchdringenden Strömungen des Feminismus zu tun, die nur mit sehr viel Vereinfachung in drei voneinander klar abgrenzbare Wellen einsortiert werden können. Natürlich hat der Feminismus als Bewegung immer auch auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert und Themen und Argumentationsmuster aufgegriffen, die gesamtgesellschaftlich relevant waren.

Zum Beispiel kann man zwei Grundhaltungen ausmachen, die sich in der zweiten Welle besonders ausdifferenzieren: Nämlich die Vorstellung, dass Frauen und Männer grundsätzlich verschieden sind, oder dass sie eigentlich und grundsätzlich gleich sind – aber eben unterschiedlich sozialisiert werden und unterschiedliche Rechte zugesprochen bekommen. Diese Frage steht im Zusammenhang mit der allgemeineren Debatte, wie groß der Einfluss von Sozialisation und Erziehung auf die Entwicklung des Menschen überhaupt ist – und wie viel davon Biologie oder Genetik.1 Das betrifft nicht nur „geschlechtstypisches“ Verhalten, sondern z.B. auch Fragen von Bildung und Intelligenz. Auch heute gibt es in regelmäßigen Abständen Pressemeldungen zum Thema, denn die tiefer liegende Frage scheint viele Menschen umzutreiben: Ist das, was wir sind, zu einem großen Teil (biologisches, genetisches) Schicksal – oder durch unsere Erziehung und unsere eigenen Entscheidungen beeinflussbar? Was darunter liegt ist auch die Frage nach dem freien Willen – ebenfalls eine philosophische Frage, auf die in den letzten Jahrzehnten auch Neurowissenschaftler*innen Antworten gesucht haben.

Eine wichtige Frage, die in den 1970ern also den feministischen Debatten zugrunde liegt, ist die nach der „Essenz“ des Frau-Seins. Niemand wird in Frage stellen, dass die Sozialisation von Jungen und Mädchen sich unterscheidet und dass sich darin, bis heute, Machtstrukturen niederschlagen. Aber haben sich diese Machtstrukturen nur aufgrund der Tatsache entwickelt, dass Frauen gebärfähig sind und bestimmte Geschlechtsmerkmale haben, oder gibt es noch tiefer liegende Eigenschaften, die hier einen Unterschied machen? Oder anders gefragt: Sind die körperlichen Merkmale lediglich ein Marker, der ein Neugeborenes in eine Kategorie einordnet – das Kind soll als Mädchen oder Junge aufwachsen, zu Mann oder Frau werden (mit de Beauvoir gesprochen) und das bedeutet dann entsprechende Erziehung und Sozialisation? Oder sind Frauen wirklich, wie manche sagen, vom Wesen her fürsorglicher, gemeinschaftsorientierter oder irgendwie anders anders – und ist damit die Idee der Gleichheit der Geschlechter von vornherein obsolet?

Eine bekannte Unterscheidung feministischer Strömungen ist die zwischen Differenz- und Gleichheitsfeminismus, die sich an genau dieser Frage aufhängt. Während die einen auf einer spezifischen „Weiblichkeit“ bestehen, betonen die anderen die Gleichheit der Geschlechter als Ziel. Allerdings ist diese Unterscheidung meines Erachtens nicht sehr produktiv. Debatten über das „Wesen“ des Geschlechterverhältnisses (biologisch, sozial oder noch anders bestimmt?) lenken vom politischen Gehalt der Fragestellung ab. Anders gesagt: Ob man an einen biologischen oder anderswie „wesenhaften“ Unterschied der Geschlechter glaubt oder nicht, bedeutet nicht automatisch, dass man die Gleichstellung von Frauen ablehnt oder befürwortet. Allerdings beeinflusst es Argumentationslinien.

Die Frauenbewegung hat lange Zeit Frauen als im Grunde defizitär verstanden. Nicht in ihrem Wesen, aber in ihren Rechten, in ihrer gesellschaftlichen Stellung. Ziel war daher eine Angleichung an das, was Männer schon durften und taten. De Beauvoirs Ratschlag an alle Frauen, Ehe und Mutterschaft abzulehnen (Interview s.u.), ist daher nur folgerichtig. Denn, abgesehen von der Sozialisation, sind es diese beiden Faktoren, die Frauen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Lage bringen, nicht das tun zu können, was Männer tun. Ehe- und Kinderlosigkeit verschafft Frauen damals im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossinnen erhebliche Freiheiten. Die Einführung der Pille in den 1960er Jahren und der Kampf um Abtreibungsrechte unterstützen die Möglichkeit, kein Kind haben zu müssen und nehmen so auch den Druck, bei ungeplanter Schwangerschaft womöglich heiraten zu müssen.

Die Argumentation bleibt dabei allerdings auf der Ebene des Individuums: Frauen sollen sich individuell so viele Reche wie möglich nehmen und es vermeiden, in Abhängigkeit zu Männern zu geraten. Es ist eine individuelle Anstrengung erforderlich, sich von den gesellschaftlichen Zumutungen des Patriarchats zu befreien, nachdem rechtliche Gleichstellung erreicht wurde.2 Diese Vorstellung, Frauen müssten sich ihre individuellen Reche eben nehmen, unterschlägt das Problem, dass die Gesellschaft über Jahrhunderte geprägt wurde durch die Dominanz von Männern und dass die Lebenssituation von Männern (im Patriarchat!) der Maßstab war, über den gesellschaftlicher Einfluss und Macht verteilt wurden. Das heißt, die Einflusssphäre männlicher Macht reicht weiter als die konkrete Macht von Vätern und Ehemännern über Töchter und Ehefrauen, sie hat sich in die gesamtgesellschaftliche Struktur eingeschrieben. Das zeigt sich z.B. in der Organisation des Arbeitslebens: Man arbeitet in einem Betrieb und kann nicht zur gleichen Zeit Kinder betreuen oder den Haushalt organisieren. Es zeigt sich aber auch daran, dass in vielen Gebieten Männer lange der Maßstab waren, das „Modell“ für das die Welt eingerichtet wurde: zum Beispiel in der Medizin oder bei Sicherheitstests für Autos. Dass mit der Illegalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Frauen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper teilweise entzogen wird, zeigt auch, dass spezifisch Frauen betreffende Themen lange nicht für so wichtig genommen wurden.

Damit ist noch nicht gesagt, dass die gesellschaftlichen Strukturen, die Frauen benachteiligen, auf ein „männliches Wesen“ zurückzuführen wären, etwa nach dem Motto: Männer interessieren sich nun einmal nicht für Kinderbetreuung und Sorgearbeit, deshalb werden diese gering geschätzt. Das wäre eine – sehr plakativ vereinfachte – Deutungsmöglichkeit. Eine andere Möglichkeit wäre, diese Strukturen als historisch gewachsene Zuschreibungen (was ist männlich, was ist weiblich?) zu verstehen, die sich gebildet haben entlang von Machtkämpfen zwischen den Geschlechtern, aber vielleicht auch aufgrund anderer historischer Entwicklungen.

Durch das jahrhundertealte Patriarchat ist es aber schon so, dass eben Männer unsere Institutionen und Werte geprägt haben. Unsere Politik, unsere Wirtschaftsweise, sogar bis hinein in die Wissenschaft und unsere Vorstellung von Wahrheit: All das wurde von Männern dominiert und geprägt. Was heißt das aber für die Frage nach einem „weiblichen Wesen“? Wenn man davon ausgeht, dass es einen wesenhaften Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt, dann wäre das „weibliche Prinzip“ hier strukturell benachteiligt und man müsste über „weibliche“ Politik, Wirtschaft, Wissenschaft nachdenken und diese voranbringen, um eine echte Gleichberechtigung der Geschlechter überhaupt schaffen zu können. Das würde einen echten Umsturz der Verhältnisse bedeuten: Wenn das, was „normal“ und „rational“ ist, in Wirklichkeit dem entspricht, was „männlich“ ist, dann müssten wir im Grunde die gesamte (gesellschaftliche) Realität hinterfragen. So genannte Ökofeministinnen gehen zum Beispiel davon aus, dass die Naturzerstörung des Kapitalismus mit dem Patriarchat zusammenhängt, weil sie beide einem Beherrschungsprinzip folgen. Frauen seien eher als Männer zu einem Leben im Einklang mit der Natur, einem Leben, das diesen Herrschaftsprinzipien nicht folgt, in der Lage. Die Gebärfähigkeit von Frauen stellen sie als positive Potenz in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen – und nicht als Makel, der möglichst zu beseitigen ist, um gleichberechtigt zu werden.

Im Gegensatz dazu gehen die sozialistischen Feministinnen von einer grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter aus. Trotzdem haben sie einen strukturellen Blick auf Gesellschaft und kritisieren die Benachteiligung von Frauen und von als weiblich verstandenen Tätigkeiten. Für sie passte die bürgerliche Frauenbewegung auch deshalb nicht ganz, weil die Ehe, die für de Beauvoir das Gefängnis der Frau ist und sie von Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung im Berufsleben abhält, für Arbeiterinnen fast nie bedeutete, keiner Erwerbsarbeit nachgehen zu dürfen. Im Gegenteil, in vielen Familien bestand weiterhin für Frauen die Notwendigkeit der Berufstätigkeit, die aber deshalb noch lange nicht automatisch, wie vielleicht das Berufsleben einer Philosophin, Selbstverwirklichung oder Unabhängigkeit bedeutete. Was aber die sozialistischen Feministinnen in den Mittelpunkt stellten, war die spezifische Arbeit der Frauen, das, was heute als Care-Arbeit bezeichnet wird, was im marxistischen Sinn aber nicht als (produktive) Arbeit gilt, weil sie keinen Mehrwert schafft. Es geht ihnen darum, diese Arbeit anzuerkennen und wertzuschätzen – in ihrer ganzen Notwendigkeit nicht nur zum Erhalt von Familien und der Gesellschaft als Ganzer, sondern auch und vor allem als Voraussetzung für („männliche“, Mehrwert schaffende) Lohnarbeit. Das heißt, in der Kapitalismuskritik muss auch diese Arbeitsform berücksichtigt werden.

Man sieht: Ob man von grundsätzlicher Differenz oder grundsätzlicher Gleichheit der Geschlechter ausgeht – aus beiden Perspektiven heraus kann man die strukturelle Dimension des Patriarchats, der Benachteiligung von Frauen und die Geringschätzung von als „typisch weiblich“ verstandenen Eigenschaften und Tätigkeiten analysieren und kritisieren. Die Schwerpunktsetzung mag verschieden sein, aber in beiden Fällen ist klar, dass die patriarchalen Strukturen ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem darstellen.

An der Unterscheidung zwischen Differenz- und Gleichheitsfeminismus kann man gut erkennen, dass unterschiedliche Grundhaltungen nicht unbedingt einander widersprechende politische Forderungen erzeugen müssen. Es ist also die Frage, welchen Wert diese Unterscheidungen haben. Man könnte bei der Darstellung der Geschichte des Feminismus auch andere Fokuspunkte setzen, zum Beispiel den regen internationalen Austausch, der Feminismus als ein globales Phänomen erscheinen lässt. Das ist er einerseits, andererseits gibt es doch deutliche Unterschiede in seinen Ausprägungen in den verschiedenen Ländern.

Teil 3 der Feminismus-Reihe erscheint in einer Woche

Literatur

Das zitierte Interview mit Simone de Beauvoir, in dem sie Frauen von Ehe und Kindern abrät, stammt aus dem Jahr 1976 und wurde von Alice Schwarzer geführt. Neu veröffentlicht wurde es 2019 als: Schwarzer, Alice/de Beauvoir, Simone (1976): Das Ewig Weibliche ist eine Lüge. Interview. In: APuZ 51/2019, S. 10–16. Link zum Interview

Weitere Literaturempfehlungen sind schwer zu geben, denn es gibt sehr viele feministische Bücher und vor allem eine lebendige politische und Diskussionskultur, gerade in der zweiten Welle. Es wäre falsch, hier einzelne Bücher herauszugreifen. Zumal ich gerade die Unterscheidung Gleichheits-/Differenzfeminismus, die ohnehin nicht so einfach zu ziehen ist, eher auch verstehen würde als Möglichkeit, Unterschiede in den theoretischen Grundlegungen und Schwerpunktsetzungen zu umschreiben bzw. zu deuten. Daher heute hier keine „Standardwerke“. Allerdings ist noch zu sagen, dass „Das andere Geschlecht“ durchaus als Standardwerk des Gleichheitsfeminismus verstanden wird. Aber gerade bei diesem Buch wird deutlich, dass der Blick insgesamt deutlich differenzierter ist als einfach Differenz oder Gleichheit der Geschlechter anzunehmen.

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  1. Besonders prominent bringt der „Fall David Reimer“ diese beiden Positionen zum Ausdruck: Reimer wurde 1965 als eineiiger Zwilling geboren. Nach einer missglückten Beschneidung wurde ihm der Penis entfernt und entschieden, das Kind als Mädchen aufwachsen zu lassen und dann später auch Hormone zu verabreichen. Der Arzt war überzeugt, dass die Sozialisation dafür entscheidend sein würde, dass das Kind sich auch als Mädchen fühlen würde. Allerdings erfuhr Reimer im Jugendalter von seiner Geschichte und entschied sich, als Mann weiterleben zu wollen. Er beging im Alter von 38 Jahren Suizid. ↩︎
  2. Wobei dies nur mit Einschränkungen gilt. In Deutschland hat sich der gesetzgeberische Prozess im Grunde bis in die 1990er Jahre gezogen, bis man tatsächlich von einer echten Gleichberechtigung sprechen konnte. Und es gibt bis heute mit der Wehrpflicht eine geschlechtsspezifische Pflicht für Männer. ↩︎

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