Grenzen
Einführung in einige grundlegende Aspekte der Philosophie Michel Foucaults
Dieser Text ist auf Grundlage eines Vortrags mit dem Titel „Membran: Grenze oder Schnittstelle“ entstanden, den ich am 12.05.2024 im Rahmen der Ausstellung „Membran – Die Welt zwischen innen und außen“ des Künstler*innenkollektivs Membran im Rechenzentrum Potsdam gehalten habe.
Wo verlaufen Grenzen – und wie sind sie entstanden? Diese Fragen gehören zu den Grundfragen, die sich der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) gestellt hat. Mit Hilfe bestimmter historisch-kritischer Analyseverfahren versuchte er, Grenzen, ja ganze Grenzschichten unseres Denkens herauszuarbeiten und so sozusagen Landkarten des Denkbaren zu erstellen.
Obwohl er den Begriff „Membran“ nicht verwendet hat – oder ihn zumindest nicht prominent gebrauchte –, ist er doch sehr anschlussfähig für die Theorie Foucaults, dessen Arbeit ja gerade darauf hinausläuft, die Undurchlässigkeit von Grenzen zu hinterfragen und sie auch als Schnittstellen zu denken. Das entschieden Biologische des Konzepts „Membran“ ist auch deswegen für die Arbeit mit Foucault interessant, weil er in seiner Analyse immer wieder auch auf das Lebendige, auf Lebenstechnologien, zurückgekommen ist und den Begriff Bio-Macht geprägt hat. Auch durch die Membran fließen ja Lebensenergien, aber auf bestimmte Weise; zum Beispiel gefiltert oder in eine bestimmte Richtung. Sie ist eine Grenze und doch auch, unter bestimmten Bedingungen, durchlässig. Daher nähern wir uns in diesem Text Foucault mit der Frage, wie er mit dem Thema Grenzen umgegangen ist, wie er es bearbeitet und in seine Analysen eingebaut hat.
Foucault: Einstieg
Spannend an Foucaults Theorie ist, dass sie einerseits ziemlich theoretisch ist, aber andererseits auch sehr politisch. Denn sie hilft, Grenzen zu hinterfragen oder gar einzureißen. Es ist aber nicht ganz einfach zu greifen, worum es ihm ging, was „seine Theorie“ war. Besser kann man sich Foucault „seitwärts“ nähern, durch einen Blick in seine Werkstatt: wie er gearbeitet hat, was seine Verfahren waren, was Philosophie für ihn bedeutete und inwiefern hier eine Verbindung zur (Gesellschafts)Kritik besteht. Denn auch für unsere Realität können wir Aspekte aus Foucaults Arbeit mitnehmen.
Foucault wird den philosophischen Strömungen Poststrukturalismus und Postmoderne zugeordnet. Das ist zwar einerseits nicht ganz falsch, denn es gibt thematische und methodische Überschneidungen und auch einen philosophischen Austausch mit Vertreter*innen dieser philosophischen Ansätze. Andererseits ist Foucaults Theorie keiner Strömung wirklich zuzuordnen, im Gegenteil gibt seine Theorie und seine philosophische Grundhaltung die Zuordnung zu einer „Schule“ gerade nicht her; denn es ging ihm gerade nicht um eine große, umfassende Weltdeutung, sondern um die Analyse von Einzelfällen, die Arbeit an Singularitäten.
Es sind dennoch thematische Parallelen zum „intellektuellen Zeitgeist“ zu erkennen; unter anderem wird (ganz grob gesagt) im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnend und mit der „Postmoderne“ noch einmal sich verstärkend die Frage nach der Wahrheit – was ist sie, wie kann ich sie erreichen, gibt es sie überhaupt? – wieder zu einem zentralen Thema in der Philosophie.
Wie viele andere Denker*innen seiner Zeit bezweifelte Foucault, dass es Wahrheit „an sich“ gibt. Stattdessen arbeitete er an der Vermutung, dass Wahrheit und Wissen immer auch mit Machtbeziehungen verwoben sind. Das bedeutet auch, dass er glaubte, dass Wahrheit sich durch die Geschichte hindurch verändert – weil sie eben nicht absolut ist und immer ein Ergebnis historischer Entwicklungen.
Er hatte also ziemlich revolutionäre Ideen. Aber, um das vorweg zu nehmen, sein kritischer, auch wahrheitskritischer Ansatz, eignet sich nicht dafür, Verschwörungstheorien zu untermauern, denn Verschwörungstheorien und Ideologien sind genau nicht in dem Maße kritisch, wie Foucault es war. Auch wenn manche begründete Kritik an den bestehenden Verhältnissen Menschen zu Verschwörungserzählungen treiben mag.
Und nicht nur seine Ideen waren revolutionär, auch politisch-gesellschaftlich hat sich Foucault sehr engagiert. Er war bei vielen emanzipatorischen Kämpfen vorn mit dabei, hat auch immer wieder seine Prominenz als Intellektueller genutzt, um auf Missstände aufmerksam zu machen oder sich zu positionieren.
Seine theoretische Arbeit dagegen war gar nicht aktivistisch oder vordergründig politisch, im Gegenteil. Sie war eher leise, sorgfältig, befasste sich mit einer großen Menge an Details. Die Themenwahl und die Grundannahmen, das Analyseraster, waren es, die man als kritisch und emanzipatorisch verstehen könnte. Und bis heute sind seine Arbeiten anschlussfähig für aktivistische Theorie und Praxis; ganz besonders dann, wenn es darum geht, gesellschaftliche Machtbeziehungen und Ausschlussmechanismen zu analysieren. Seine theoretischen Instrumente sind auch heute noch geeignet für eine kritische, gesellschaftliche Zustände hinterfragende Praxis; insbesondere dort, wo es um Ausgrenzung und Unterdrückung von Personen geht, die bestimmten gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen. Zugleich bieten seine Arbeiten Ansatzpunkte für subversive Strategien, um diesen Machtverhältnissen zu entkommen, um die Grenzen zu unterlaufen oder vielleicht sogar zu verschieben.
Grenzen
Das Thema Grenzen, obwohl nicht unbedingt prominent in Foucaults Arbeiten platziert (aber auch nicht sehr versteckt), zieht sich auf ganz vielfältige Weise durch seine Forschung. Es ist Thema seiner historischen Arbeiten, von denen ich euch hier einige vorstellen werde, und immer auch geht es darum, gegebene Grenzen in Frage zu stellen. Aber Foucault hat auch Fachgrenzen gesprengt: Er hat Abschlüsse in Philosophie und in Psychologie erworben und zeitweise auch im Bereich der neurologisch-psychiatrischen Forschung gearbeitet. Dass er sich letztlich doch für die Philosophie entschied, ein Fach, das er an der Eliteuniversität Ecole normale supérieure (ENS) in Paris studiert hatte, hielt ihn nicht davon ab, sich in den Bereich des Historischen vorzuwagen. Er machte keine Systemphilosophie und auch keine Philosophiegeschichte, sondern arbeitete im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Geschichte. Er war, wenn man es auf den Punkt bringen möchte, ein philosophischer Empiriker. (Was für viele Philosoph*innen ein Widerspruch in sich ist. Immerhin ist die Philosophie eine Geisteswissenschaft.)
Auch darin erkennt man das Erbe Friedrich Nietzsches (1844–1900), der für Foucaults Denken eine zentrale Rolle spielt und der den Begriff „Genealogie“, der später ein spezifisch Foucaultsches Verfahren bezeichnen wird, in die Philosophie eingeführt hat. Auch für Nietzsche ist die Geschichtlichkeit unserer Welt ein Kulminationspunkt seines Denkens und der kritische Impuls, zu fragen, ob die Geschichten, die wir uns über unsere Herkunft erzählen, nicht vielleicht auch anders erzählt werden könnten.
Foucault selbst charakterisierte seine eigene Tätigkeit folgendermaßen:
„Meine Bücher sind weder philosophische Abhandlungen noch historische Studien, sondern philosophische Fragmente in der Baustelle der Historiker.“
Aus einem Gespräch vom 20.05.1978; veröffentlicht in Dits et Ecrits IV, S. 26
Auch wenn er sich also im Bereich der Geschichte bewegte – er analysierte historische Quellen auf eine ganz bestimmte Weise, darauf kommen wir noch – verstand Foucault sich immer als Philosoph. Sein Philosophiebegriff war dabei ein sehr praktischer: Philosophie ist eine Praxis und es geht dabei nicht primär um Ergebnisse, sondern um Transformation: Die Transformation unseres Wissensbestandes (oder dessen, was wir zu wissen glauben) ebenso wie die Transformation unserer selbst. Denn durch die Geschichte hindurch wirft Foucault einen neuen, frischen Blick auf die Gegenwart. Und die ist es, um was es eigentlich geht.
Das macht auch sein politisches Engagement neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zu einem folgerichtigen Schritt. Foucaults Einsatz für die Ausgegrenzten und Unterdrückten durchzieht sowohl seine politische als auch seine philosophische Arbeit. Vermutlich spielte dabei auch eine Rolle, dass er als Homosexueller gesellschaftliche Normierungs- und Ausschlussmechanismen am eigenen Leib erfahren hat. In vielen politischen Kämpfen seiner Zeit war Foucault dabei und er war sich auch nicht zu schade, reihenweise Interviews zu geben, wenn ihm ein Thema am Herzen lag.
Seine theoretische Arbeit vollzog sich hingegen in mühevoller Kleinarbeit. Er ging so vor, dass er einen großen Korpus an historischen Dokumenten auswertete, ihn sortierte und dann versuchte, sozusagen hinter den bloßen Inhalt der Texte zu blicken. Durch die schiere Masse an ausgewerteten Quellen gelang es ihm, Ordnungen und Muster herauszupräparieren. Es ging ihm dabei um die Frage: Wie stehen Wissen und Macht in Verbindung. Oder, wie er selbst formuliert:
„Ich versuche, die Grenzschicht oder, wie moderne Techniker sagen, das Interface zwischen Wissen und Macht, zwischen Wahrheit und Macht sichtbar zu machen. Das ist mein Problem.“
Aus einem Gespräch vom 13.10.1977, veröffentlicht in Dits et Ecrits III, S. 521
Die Idee der Membran ist hier eigentlich schon zum Greifen nahe.
Foucault versucht, mit seiner Arbeit verborgene Schichten, Verbindungen und Abgrenzungen sichtbar zu machen. Das heißt: Er sagt nicht: „Das und das ist die Grenze zwischen Macht und Wissen – und das ist übrigens Wissen und das ist Macht.“ Stattdessen orientiert er sich streng an den Texten und präpariert Einzelfälle heraus. Zusammen ergeben diese zwar eine Ordnung, aber keine Liste von abstrakten Erkenntnissen oder Definitionen. Das ist auch der Grund, warum man sich Foucaults Theorie besser „seitwärts“ nähert als frontal: Wenn man seine Texte liest, wird man direkt in die theoretische Arbeit hineingezogen, befindet sich sozusagen in seiner Werkstatt und kann seine Gedankengänge nachvollziehen. Andererseits ist es kaum möglich, Foucaults Arbeit kurz und knapp und ergebnisorientiert zusammenzufassen. Was dieser Text also leisten will, ist eher eine gedankliche Annäherung an Foucaults Theorie und eine Einladung zum Weiterdenken.
Das historische Apriori
Um seinen philosophischen Blick in die Dokumente der Geschichte zu werfen, hat Foucault sehr spezielle Verfahren entwickelt. Dafür nahm er sich große Textmengen vor – zum Beispiel alles an medizinischer Literatur von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, das er finden konnte. Sein Ziel war es, die unausgesprochenen, die unbewussten Grundlagen und Voraussetzungen des Denkens in diesem speziellen Feld – beispielsweise in der Medizin dieser Zeit – herauszuarbeiten. Er nannte das das „historische Apriori“. Damit meint er die Grundlagen und Regeln, die die Bedingungen für unser Wissen und unsere Erfahrungen bereitstellen.
Alles, was wir wahrnehmen und denken, all unsere Erfahrungen sind durch einen unsichtbaren Rahmen des kulturellen Wissens, der kulturellen Bedingtheit geprägt. Wir nehmen diesen Rahmen meistens nicht wahr, denn er ist tief in unserem Bewusstsein verankert.
Eine Vorstellung davon, was so ein „historisches Apriori“ ist, kann man bekommen, wenn man an andere Kulturen denkt, insbesondere an solche, die uns geographisch sehr fern sind. Also: Dass dort vielleicht ganz andere Dinge selbstverständlich sind als bei uns; dass moralische Bewertungen ganz anders sein können. Das geht bis in die Sprache hinein: Für manche Dinge, die in anderen Kulturen wichtig sind, haben wir nicht einmal Wörter.
Indem er große Textmengen analysiert, und versucht, wiederkehrende Muster und Strukturen herauszuarbeiten; von dem, was gesagt wird und von dem, was genau nicht gesagt wird; und wie es gesagt wird, in welchen Zusammenhängen und von wem, versucht er, sich den Bedingungsstrukturen für unser Wissen und unsere Erfahrungen zu nähern und damit das historische Apriori einer Zeit zu erfassen. Damit versetzt er sich und uns in die Lage, die eigene Geschichte, die eigene Kultur als fremd wahrzunehmen. Er stellt eine Distanz her, um das, was uns sonst nicht bewusst ist, bewusst zu machen.
Was bedeutet eigentlich „Apriori“?
Der philosophische Terminus a priori ist stark durch Immanuel Kant (1724–1804) geprägt, der den Gegensatz a priori / a posteriori in seinem System eine zentrale Rolle gab. Wenn man heute von a priori spricht, meint man in der Regel die Bedeutung, die Kant ihr beimaß und das ist, grob gesagt: Vor der Erfahrung liegend. Erkenntnis a priori ist Erkenntnis, die wir erhalten können, ohne in die Welt zu schauen; die also aus dem Geist selbst kommt, nicht wandelbar ist und die die Grundlage für empirische Erkenntnis bildet.
Das historische Apriori ist natürlich gerade nicht erfahrungsunabhängig erkennbar oder rein geistig und vor allem ist es historisch veränderlich. Aber es ist insofern a priori, als es ebenfalls den Erfahrungen vorausgeht und damit grundlegende Bedingungsstrukturen bereitstellt.
Bei dieser Arbeit stößt er immer wieder auf große Verschlingungen von Wissen und Macht. Er stellt fest: Wissen wird auch durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse bestimmt. Was gilt als wahr, was als wissens-, als erstrebenswert? Das ist keine reine Wissensfrage, sondern auch immer ein Resultat von Machtwirkungen. Zugleich ist Macht nicht einfach Wissens-unterdrückend, sie kann auch produktiv sein. Im Zusammenhang mit der Bio-Macht, die ein Thema von Foucaults späterer Forschung ist, stellt er fest, dass die Produktion von Wissen über den Körper auch ein Macht- und Kontrollinstrument sein kann.
Verfahren
Für Foucault ist daher ganz klar: Wissen und Macht kann man nicht ganz trennen. Man kann nur die Grenzschichten, die Übergänge, die gegenseitigen Effekte herauspräparieren und kartieren. Dafür hat er zwei Verfahren entwickelt: Archäologie und Genealogie.
Dabei meint er mit Archäologie nicht das reale Ausgraben von Artefakten, wie es die Archäologie sonst tut, sondern das möglichst vollständige Erfassen und Auswerten eines so genannten „Archivs“. Das „Archiv“ ist ein möglichst vollständiger Textkorpus aus einer Zeit zu einem Thema. Die Archäologie arbeitet so sozusagen in die „Breite“ einer Zeit und versucht das Nebeneinander von Aussagen, ihre Bezüge und Verflechtungen, möglichst genau herauszuarbeiten.
Die „Genealogie“ hingegen ist ein Rückfrageverfahren. Sie erarbeitet die Herkunftsgeschichte einer Institution anhand der wirkenden Macht- und Wissensbeziehungen. So geht sie von einer Stelle aus in die „historische Tiefe“.
Beide Verfahren haben dabei, wie gesagt, die Gegenwart im Blick. Sie wollen das historische Apriori einer Zeit erfassen und uns unsere eigene Geschichte „fremd“ machen. Denn letztlich geht es Foucault immer auch darum, durch den Umweg in die Geschichte, einen neuen und kritischen Blick auf unsere Gegenwart zu werfen.
Auch wenn Foucault sich in mühevoller Kleinarbeit durch das Archiv hindurchfräst, erzählt er am Ende doch meistens: Geschichten. Und zwar: Abgrenzungsgeschichten.
Dabei hat er sich verschiedene Themenkomplexe herausgegriffen, diese erforscht und die Abgrenzungen nachgezeichnet, die bei der Auswertung des Archivs zum Vorschein kommen. Das Resultat sind Geschichten, alternative Erzählungen über unsere Geschichte und die Herkunft unserer Institutionen; oftmals Geschichten, die eine Grenze, die uns aus heutiger Perspektive ganz natürlich und wie „immer schon da“ erscheint, in ihrer Historizität und Gewordenheit, auch in ihrer Zufälligkeit, zeigen.
Diese Geschichten sind zum Teil sehr theoretisch und abstrakt, aber oftmals behandelt Foucault auch sehr praktische und anschauliche Themen. Drei davon stelle ich im Folgenden vor, um einen Eindruck davon zu geben, wie die Ergebnisse von Foucaults Forschung aussehen konnten.
Werke
Im Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961) zeichnet Foucault die Abgrenzung zwischen Vernunft und so genanntem „Wahnsinn“ seit dem Mittelalter nach. Es ist nämlich gar nicht so, dass wir schon immer die Vorstellung von einem Gegensatzpaar „Wahnsinn und Vernunft“ hatten. Foucault arbeitet in diesem Buch heraus, wie allmählich eine Grenze gezogen wird zwischen Vernunft und Unvernunft; wie der Wahnsinn aus der Vernunft „ausgeschieden“, von ihr abgegrenzt werden musste, um die Vernunft in der Neuzeit überhaupt zu definieren. Die Vernunft braucht den Wahnsinn als ihr Gegenteil, als ihr „Anderes“.
Gleichzeitig wird der neu definierte „Wahnsinn“ zum Verstummen gebracht, denn er ist aus dem „vernünftigen Diskurs“ ausgegrenzt. „Wahnsinniges Sprechen“ hat in dieser Vorstellung von Vernunft überhaupt keinen Sinn und ist es auch nicht wert, im vernünftigen Diskurs gehört oder gar festgehalten zu werden. Foucault versucht in seiner Arbeit, diese ungehörten Stimmen zu finden oder sichtbar zu machen. Er will das kartieren, was jenseits der von der Vernunft gezogenen Grenze liegt. Eine schier unmögliche Aufgabe, die vor allem indirekt über die Auswertung des Archivs erfolgen muss. Aber damit erst macht er diese Grenze, die uns heute so selbstverständlich erscheint, überhaupt sichtbar und analysierbar.
Wir beobachten hier zweierlei: Einerseits eine Transformation des Wissens, indem ein neuer Vernunftbegriff etabliert wird. Andererseits Machtwirkungen, auch neue Machtmuster, die die Marginalisierung des „Unvernünftigen“ durchsetzen. Das zeigt sich auch daran, dass nicht nur im Denken Grenzen gezogen werden, sondern dass auch ganz reale Grenzen, Mauern, errichtet werden: Parallel mit der „Erfindung“ des Wahnsinns entsteht der Bedarf, ihn zu kontrollieren. In dieser Zeit entstehen Institutionen für die Einsperrung und Kontrolle der so genannten „Wahnsinnigen“. Sie werden nicht nur innerhalb der Gesellschaft zum Verstummen gebracht, indem man ihre Worte als sinnlos und unvernünftig definiert. Sie werden auch ganz faktisch, mit ihren Körpern, ausgesperrt aus der Gesellschaft.
In einem anderen Buch befasst Foucault sich mit der „Geburt der Klinik“ (1963). Dort geht es um die Entwicklung der (Universitäts)Kliniken. Auch hier werden Grenzen verschoben: In der frühen Neuzeit wird Medizin vor allem von außen an den Körper herangetragen. Um 1800 aber beginnt der ärztliche Blick sich zu wandeln und richtet sich immer stärker nach innen. Die medizinische Forschung durchstößt sozusagen die Körpergrenzen und dringt ins Innere vor.
Das hängt zusammen mit einer Reorganisation der Klinik als Institution und der Entstehung der Universitätsklinik, die sich zu einer Forschungseinrichtung entwickelt und die Medizin insgesamt „wissenschaftsorientierter“ reorganisiert. Der ärztliche Blick ist dabei zunehmend ein wissenschaftlich informierter – und zugleich ein forschender, der neues Wissen produziert. Auch die Vorstellung davon, was eine Krankheit ist, verändert sich im Zuge dieser Reorganisation des Wissens und der Institution. Foucault veranschaulicht das an einem Beispiel:
„In einer winzigen aber entscheidenden Veränderung kündigt sich diese neue Struktur an – natürlich ohne sich darin zu erschöpfen: wurde im 18. Jahrhundert der Dialog zwischen dem Arzt und dem Patienten mit seiner spezifischen Grammatik und Stilistik durch die Frage ‚Was haben Sie?‘ eröffnet, so finden wir die Spielregeln der Klinik und das Prinzip ihres Diskurses in jener anderen Frage wieder: ‚Wo tut es Ihnen weh?‘.“
Die Geburt der Klinik, S. 16
Das Buch „Überwachen und Strafen“ (1975) ist vielleicht Foucaults bekanntestes. Hier behandelt er die Entwicklung des modernen Gefängnissystems seit der frühen Neuzeit. In diesem Werk wird besonders deutlich, dass Foucault Geschichte „gegen den Strich“ bürstet und so zu ganz überraschenden, neuen Sichtweisen kommt.
Man könnte ja annehmen, dass die Entwicklung moderner Gefängnisse ein zivilisatorischer Fortschritt sei: Bis in die Neuzeit hinein waren körperliche Strafen, das heißt Folter oder Marter, üblicher Bestandteil von Strafen (und auch von Befragungen, nebenbei bemerkt). Diese werden langsam durch eine Gefängnisstrafe ersetzt, in der zwar noch Zwang herrscht, aber keine systematische Folter. Anstatt den Körper die Macht des Staates spüren zu lassen, geht es nun um Kontrolle, auch des Geistes. Die Menschen werden eingesperrt und möglichst effizient kontrolliert.
Dieser Wandel lässt sich auch an der modernen Gefängnisarchitektur ablesen: An die Stelle des mittealterlichen Verlieses, das im Keller liegt und die Gefangenen den Blicken von außen entzieht, treten moderne Gefängnisse, die im „Idealfall“ so gebaut sind, dass die Wärter*innen die Gefangenen zu jeder Zeit beobachten können, ohne selbst gesehen zu werden. Daran angeschlossen ist ein System der einerseits drohenden Strafe und der andererseits in Aussicht gestellten Belohnung. Die Gefangenen werden diszipliniert.
Kann man also einerseits durchaus von einer Humanisierung der Bestrafung sprechen – zum Beispiel etablierte sich im Zuge dieser Entwicklung auch der Gedanke, dass Strafen angemessen und verhältnismäßig sein sollen –, muss man andererseits eine Intensivierung der Kontrolle und Machtausübung gegenüber den Gefangenen feststellen.
Das Perfide an dieser Entwicklung ist, dass sich die Kontrolle über die Gefangenen von außen – in der Folter wird der Körper von außen malträtiert und zugerichtet – nach innen bewegt, wo die Gefangenen, die sich immer beobachtet und kontrolliert fühlen müssen, letztlich anfangen, sich selbst zu kontrollieren. Das moderne Strafsystem will die Menschen von innen her korrigieren, wohingegen das körperlich strafende System die Strafe von außen an den Sträfling heranträgt und ihm damit ein Stück weit innere Freiheit lässt.
Die Parallele zu zeitgenössischen neoliberalen Selbstoptimierungs-Ideen ist hier ziemlich augenfällig und zeigt, dass in diesen angeblich freiwilligen Idealen und Prozessen eindeutig Machtstrukturen am Werk sind.
Foucault ist in „Überwachen und Strafen“ übrigens einem umfassenderen „historischen Apriori“ auf der Spur. Denn er stellt fest, dass sich zeitgleich mit der Herausbildung des modernen Strafsystems weitere disziplinierende Institutionen bildeten, die nach einem ähnlichen System funktionieren, auch wenn sie ihre „Insassen“ nicht einsperren. Allen voran die Schulen, aber auch Kasernen, Werkstätten, Kliniken sind nach diesem Schema der Disziplinierung und Kontrolle aufgebaut. Foucault spricht auch davon, dass hier eine „Disziplinargesellschaft“ entsteht.
„Ergebnisse“?
Das ist natürlich nur ein kleiner Einblick in die Theorie und Verfahrensweisen Foucaults. Aber vielleicht ein Einstieg und auch ein Impuls für weiteres Nachdenken und kritisches Hinterfragen unserer eigenen Geschichte und Institutionen.
Foucault ging es darum, über den Umweg der Geschichte, eine Distanz zu dem zu schaffen, was uns selbstverständlich erscheint. Und damit Dinge hinterfragbar zu machen, deren Hinterfragbarkeit uns vielleicht gar nicht bewusst ist, weil sie uns wie Naturgesetze erscheinen. Aber auch sie haben sich historisch entwickelt und könnten daher auch anders sein.
Und obwohl ich oben gesagt hatte, dass man mit Foucault keine Liste an „Erkenntnissen“ oder sein „System“ rekonstruieren kann, so gibt es doch ein paar Schlüsse, die man aus seinen Arbeiten ziehen kann und die weitere Analysen anregen könnten.
1. Macht und Wissen sind überall.
Es gibt ja die (linke) Utopie, Macht abzuschaffen, damit alle Menschen frei sind. Mit Foucault ist das gar nicht möglich. Es kann keine Befreiung geben von etwas, das überall ist, und auch auf der kleinsten, persönlichsten Ebene wirksam ist. Macht ist für Foucault auch nicht so sehr etwas, das jemand „hat“ und über andere „ausübt“. Es ist eher ein Name für die immer existierenden Beziehungen und Spannungen zwischen Menschen, in Institutionen, und so weiter.
Macht findet ihren Weg bis in unsere innerste Persönlichkeit hinein, sie ist also auch ein Teil von uns. Innerhalb von Machtbeziehungen formen wir uns selbst, als Subjekte.
Ebenso kann Wissen nie unabhängig und damit absolut gültig sein. Es ist immer eingebunden in seine historischen Bedingungen – und mit Machteffekten verwoben. Es beinhaltet immer ein unbewusstes historisches Apriori, das herausgearbeitet und in Frage gestellt werden kann.
2. Foucault erlaubt uns keine unabhängigen, sicheren, allgemeingültigen Erkenntnisse. Stattdessen ist seine Forschung zu verstehen als kontinuierliche Analysepraxis, von der wir uns anregen lassen können.
Die Frage ist also: Was ist das Grundgerüst, das Muster, das wir für die eigene Praxis nutzen können? Seine Auswertung historischer Quellen vollzieht Foucault anhand von drei Achsen. Auf zwei davon bin ich hier ausführlicher eingegangen: Wissen, bzw. Wahrheit, und Macht. Er analysiert, wie sie einander beeinflussen, was an ihren Übergängen und Grenzen geschieht. Macht und Wissen trennt oftmals nur eine sehr durchlässige Grenze, eher Schnittstelle als dichte Abgrenzung.
Der dritte Aspekt, den Foucault in seinen Arbeiten intensiv bearbeitet, ist der Mensch, das Subjekt. Das müsste eigentlich Gegenstand eines eigenen Textes sein. Der Begriff „Subjekt“ ist deswegen spannend, weil wir bei dem Begriff „Subjekt“ meist im Hinterkopf haben, dass es sich hierbei um ein relativ unabhängiges, freies Individuum handelt. Zugleich beinhaltet der lateinische Wortstamm subiectum auch den Bedeutungsgehalt von unterwerfen, Unterwerfung, „Subjekt“ war auch die Bezeichnung für einen Untertan. Wir haben hier also im Subjektbegriff eine Ambivalenz zwischen Handlungsmacht und Unfreiheit, die sehr gut passt zu Foucaults Analysen.
Denn natürlich geht es ihm letztlich immer um menschliches Handeln, um die Auswirkungen auf Subjekte, in den Macht-Wissen-Spielen und ihren Institutionen. Was also macht es mit einem Subjekt, wenn es zum Beispiel in einer Disziplinargesellschaft lebt? Dabei geht Foucault eben nicht davon aus, dass wir von all dem jemals ganz frei sein könnten, dass es sozusagen einen „machtfreien“ Nullpunkt des Menschseins geben könnte. Vielmehr bewegen wir Menschen uns in den Spannungsfeldern der Welt und werden nur in ihnen und durch sie zu Subjekten – das ist Teil der Realität und des Menschseins.
Diese drei Achsen: Wahrheit, Macht und Subjekt, sind Foucaults Achsen der Analyse. Sie bilden eine Art Raster, nach dem er historische Quellen untersucht. Man kann ihn so verstehen, dass er das gleichzeitig als Achsen der Wirklichkeit deutet. Es ist im Grunde eine Art Dreidimensionalität unserer (menschlichen) Realität: Wahrheit, Macht und Subjekt bilden unsere menschliche Wirklichkeit – so wie die drei räumlichen Dimensionen den Raum an sich und damit unsere räumliche Wirklichkeit aufspannen. Ohne diese Dimensionen könnten wir gar nicht denken. Und es ist ganz schwer, uns von ihnen zu distanzieren, sie zu hinterfragen – denn sie spannen ja unsere Welt auf.
Und damit kommen wir zu dem für diesen einführenden Text hier vielleicht wichtigsten Punkt:
3. Nichts ist notwendig so, wie es ist. Alles ist veränderbar.
Einerseits klingt es schrecklich: Wissen und Macht beherrschen unsere Welt, wir Menschen können uns davon gar nicht unabhängig machen. Andererseits bedeutet das: Wenn alles durch diese Kräfte bestimmt ist, wenn alles, was unsere Welt ausmacht, historisch entstanden ist – selbst unsere grundlegendsten Annahmen, unser historisches Apriori –, dann ist auch nichts unveränderlich.
So entsteht ein Raum und Ansatzpunkte für emanzipatorische Kämpfe.
Wenn ich weiß, dass die Organisation unseres Wissens auf historische Zufälle zurückgeht; wenn ich feststelle, dass man Fortschrittserzählungen – beispielsweise der von der „Humanisierung des Strafsystems“ – Gegenerzählungen entgegenhalten kann, die diesen Fortschritt in Frage stellen, dann kann das mein Denken befreien. Ich kann anfangen, das, was ich bisher für selbstverständlich gehalten habe, zu hinterfragen.
Das hat auch Folgen für unsere Vorstellung von Grenzen: Nur wenn ich weiß, dass da eine Grenze ist, kann ich sie infrage stellen. Die Ausgrenzung von so genannten „Wahnsinnigen“ aus dem Diskurs der Vernünftigen erscheint den Menschen der Moderne erst einmal ganz „normal“. Aber wenn uns klar wird, dass hier eine Grenze gezogen wurde, die gar nicht immer da war, dann kann sich unser Blick auf diese Abgrenzung verändern und wir können sie in Frage stellen.
Foucault hat sich auch sehr dafür interessiert, wo Grenzen unterwandert und unterlaufen werden, wo subversive Praktiken ansetzen können. Er hat Beispiele gesammelt, in denen die Ausgestoßenen ihr Ausgestoßensein nicht hingenommen haben. Wo sie in die Stille hinein gesprochen haben. Wo das Wort gegen alle Macht ergriffen wurde.
Denn Macht ist niemals absolut! Es gibt immer „Lücken im System“. Und es gibt immer einige, die merken, dass sie nicht der Norm entsprechen. Anstatt zu verzweifeln, gelingt es manchen von ihnen, die Norm in Frage zu stellen – und damit: gegen die Grenzen anzurennen, sie zu verschieben oder gar einzureißen. Denn für manche Menschen machen bestimmte Grenzen ein Leben als Subjekt ganz und gar unmöglich. (Die Subjektivierung, also die Entstehungs- und Prägungsprozesse von Subjekten, ist wiederum ein komplexes Thema, dem sich neben Foucault weitere Philosoph*innen gewidmet haben, ziemlich prominent in den letzten Jahrzehnten Judith Butler. Das wäre tatsächlich ein Thema für einen eigenen Beitrag.)
Membran – Grenzen und Übergänge
Die Ausstellung, in deren Rahmen eine erste Version dieses Textes als Vortrag gehalten wurde, beschäftigte sich mit Grenzländern, mit Welten „zwischen innen und außen“. Wie ambivalent das Thema Grenzen ist, dafür ist Foucault ein interessanter Gesprächspartner.
Der Begriff „Membran“, den die Künstler*innen gewählt haben, ist daher eigentlich viel schöner. Denn er betont stärker die Verbindung und den Austausch zwischen „drinnen“ und „draußen“.
Gleichzeitig müssen wir uns klar darüber sein, dass wir Grenzen auch brauchen. Abgrenzungen sind wichtig, um überhaupt etwas sehen zu können: Sonst wäre alles nur eine einheitliche graue Masse. Grenzen geben dem Raum Struktur, sie ermöglichen die Unterscheidung von „Ich“ und „Du“.
Der Membran-Begriff weist dabei allerdings auf die biologische Tatsache hin, dass keine Grenze je ganz undurchlässig ist. Dass Grenzen zwar Linien in den Raum ziehen, aber nie ganz den Austausch zwischen innen und außen, zwischen Körper und Umwelt, anhalten können.
Die Spannungsmuster, die Wissen und Macht in die Welt zeichnen, werden auch durch Grenzen aufgespannt. Sie sind Teil der Wirklichkeit. Man kann sie zwar nicht abschaffen, aber man kann sie in Frage stellen – und versuchen, sie zu verändern.
Dabei sollten wir nicht vergessen, dass das Einreißen der einen das Ziehen einer neuen Grenze beinhalten kann. Aber das bedeutet nicht, dass wir es deswegen aufgeben sollten, Grenzen in Frage zu stellen. Es ist immer der erste Schritt, Ausgrenzungen überhaupt sichtbar zu machen und sie damit in die Sphäre des politisch Verhandelbaren zu holen. Und damit sind wir dann im Bereich des Politischen und es ist nur folgerichtig, dass Foucault und auch viele andere Philosoph*innen so aktivistisch unterwegs waren und sind. Aber das ist eine andere Geschichte.
Literaturempfehlungen zu Foucault
Petra Gehring: Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt a.M./New York: Campus 2004. *** Das ist die meiner Ansicht nach beste deutschsprachige philosophische Einführung in Foucaults Theorie.
Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Petra Gehring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. *** Zusammenstellung, v.a. aus den kleineren Schriften und Interviews von Foucault, in denen man mehr zu den Grundlagen und Verfahren seines Denkens erfährt.
*** Alle Bücher Foucaults sind lesenswert, aber nicht immer sehr zugänglich. Am besten ist es wohl, nach dem eigenen Interesse zu gehen. Das „historische Apriori“, das in diesem Text eine wichtige Rolle spielt, wird in „Archäologie des Wissens“ vorgestellt.
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.
*** Ich selbst habe auch ausführlicher zu Foucault geforscht. Das findet man hier:
Johanna Wischner: Fundamentalismuskritik. Eine Neubetrachtung der politischen Philosophien von Foucault, Habermas und Rorty. Frankfurt a.M./New York: Campus 2022.
Zitierte und genannte Bücher von Michel Foucault
Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969.
Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Fischer 1988.
Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976.
Dits et Ecrits. Schriften. 4 Bände. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001–2005.
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