Was ist Erziehung?


Ja… das ist eine Frage, wie Philosoph*innen sie lieben. „Was ist… xyz?“ Andere Menschen denken einfach, sie wüssten schon, wovon die Rede ist, wenn sie ein Wort gebrauchen. Aber die Philosophin sagt: „Moment mal!“
Das kann man natürlich als Besserwisserei abtun. Ich glaube aber, dass dieses immer wieder Sich-Verständigen über die Grundlagen unseres Denkens und Sprechens wirklich wichtig ist. Und da das im Alltag nicht gut geht, denn sonst kämen wir nie ins Handeln, muss dieses Nachdenken einen eigenen Ort haben, und der kann die Philosophie sein.

Es geht dabei nicht um eine vollständige und absolute Beantwortung der Frage, sondern um die Annäherung an einige, vielleicht weniger offensichtliche, Schichten dieses Begriffs. Um eine Bereicherung unseres Verständnisses von uns selbst und unserer Vorstellungen.
Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Szene aus meiner Studienzeit: Zwei Freund*innen, ein Erziehungswissenschaftler und eine Politologin, hatten eine größere Auseinandersetzung darüber, ob es etwas wie Erziehung überhaupt braucht. Ich weiß nicht mehr genau, was die Argumente waren. Aber der Politologin ging es, so glaube ich, um den Punkt, dass Erziehung, wie sie sie versteht, immer auch bedeutet, Kindern den eigenen Willen, oder eine Art allgemeinen Willen, aufzuzwingen. Und die Notwendigkeit, ja die Legitimität eines solchen Umgangs mit Kindern, oder anderen Menschen insgesamt, stellte sie nachdrücklich in Frage.
Die Szene ist mir deswegen in Erinnerung geblieben, weil für mich bis dahin einfach selbstverständlich gewesen war, dass Eltern ihre Kinder eben erziehen. Eine Beschreibung des Eltern-Kind-Verhältnis ohne dieses Wort war mir bis dahin gar nicht in den Sinn gekommen. Es hat mich aber seitdem nicht mehr losgelassen. Denn es ist auf gesellschaftlicher Ebene interessant: Welche Rolle nehmen Kinder in der Gesellschaft ein? Und wie gestaltet Erziehungshandeln Gesellschaft? Aber auch auf persönlicher Ebene: Was ist die Beziehung, die ich zu meinen eigenen Kindern haben will? Will ich meine Kinder „erziehen“ – und wenn ja, was genau meine ich damit?

Erziehungsbegriff

Wenn man sich mit einem Begriff beschäftigt, ist es hilfreich, sich einmal die Begriffsherkunft und -geschichte anzusehen. Denn was wir mit einem Wort meinen, lagert sich in den Bedeutungsschichten des Begriffs ab: Wenn wir ihn gebrauchen, rufen wir immer auch seine Geschichte mit auf, tippen das an, was frühere Generationen meinten, wenn sie „Erziehung“ sagten.

Zunächst einmal sticht das „ziehen“ in „Erziehung“ ins Auge. Aber damit war in der Begriffsentstehung wohl weniger ein Zerren gemeint, wie wir es heute verstehen könnten, sondern ein Führen. Das zeigt sich auch im lateinischen Wort educare [erziehen], das eng mit dem Wort educere [(heraus)führen] (e + ducere [führen]) verwandt ist und eben stärker den führenden, leitenden Charakter von Erziehung betont, der auch in der deutschen Wortbedeutung entscheidend ist.
Interessant ist allerdings in educere/educare das Präfix e-: „heraus“ oder „weg“: Bedeutet das, dass es in der Erziehung darum geht, die Kinder aus dem Status des Kindseins herauszuführen? Kindsein als sozusagen das unvollkommene Menschsein, aus dem man sich möglichst schnell herausbewegen muss?
Interessant am Wort „Erziehung“ ist außerdem, dass dieses deutschsprachige Wort, auch in seinen alt- und mittelhochdeutschen Vorläufern, nicht nur mit Kindern, sondern auch mit Pflanzen und Tieren in Verbindung gebracht wurde. (Wen das genauer interessiert, dem empfehle ich eine Recherche im Wörterbuch der Brüder Grimm, oder insgesamt in alten Wörterbüchern. Online zum Beispiel hier) Die hiermit verbundenen Bedeutungsgehalte „aufziehen“, „prägen“, „zurichten“ haben auch in unserem aktuellen Sprachgebrauch ihre Spuren hinterlassen: wir sprechen von „gut erzogen“, von „guter Kinderstube“, wenn Kinder oder Erwachsene sich den gesellschaftlichen Normen angemessen verhalten.

Wenn wir heute sagen „Erziehung“, dann wissen wir zumindest grob, was gemeint ist. Wir meinen die Praxis der bewussten Einflussnahme und Lenkung durch Erwachsene im Aufwachsen von Kindern, insbesondere unserer Kinder. Aber auch in pädagogischen Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen findet Erziehung statt. Im weiteren, alltäglichen Sprachgebrauch können auch Tiere „erzogen“ werden, und manchmal auch Erwachsene (z.B. Männer durch ihre Partnerinnen) – diese Aspekte lasse ich hier aber außen vor.
Die Wissenschaft, deren Hauptthema die Erziehung ist, heißt Pädagogik oder Erziehungswissenschaft. Und dort wird natürlich noch viel feingliedriger darüber nachgedacht, was genau Erziehung ist, wie sie sich von Bildung unterscheidet und wie von Sozialisation; ob man sie nur Kindern zukommen lässt, oder ob auch Erwachsene erzogen werden können – und in welchem Rahmen sie stattfinden kann und soll.

Was mich als Philosophin interessiert, sind die Fragen, die an der Frage nach Sinn und Ziel von Erziehung hängen. Warum und wozu (d.h. wohin) soll erzogen werden? Und daraus folgend: Welches Menschenbild steckt darin und welche Vorstellung von der Rolle der Einzelnen in der Gesellschaft? Familiäre wie staatliche Erziehung trägt ja Vorstellungen dieser Art in sich und ist ein Instrument zur Formung von Einzelnen und der Gesellschaft, indem sie die Menschen prägt und sie nach den eigenen Normen zu prägen versucht: Denken wir an die Schulpflicht, die durchaus ihre Berechtigung hat. Aber sie ist ein Zwang, sich dem staatlichen Erziehungshandeln auszusetzen und in ihr stecken Vorstellungen, was Kinder brauchen und welche Rolle sie – jetzt und später als Erwachsene – in der Gesellschaft haben sollen.

Erziehungsziele – Das Beispiel Schule

In Deutschland gibt es, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auf der Welt, eine Schulpflicht. Sie wurde eingeführt, um das Bildungsrecht der Kinder auch gegen den Willen der Eltern – die sie vielleicht als Arbeitskräfte brauchten – durchzusetzen. Gleichzeitig steht dem Staat damit ein mächtiges Werkzeug der Einflussnahme auf alle Kinder und Jugendlichen zur Verfügung. Im Gegensatz zur Unterrichts- oder Bildungspflicht, die in vielen Ländern die Schulpflicht ersetzt (in Europa etwa in Großbritannien, Dänemark und der Schweiz), reicht es in Deutschland nicht, zu lernen (was auch zu Hause geschehen kann), es muss in einer Schule geschehen und geht damit über die bloße Gewährleistung der Bildungschancen hinaus.
Artikel 7, Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beinhaltet ganz klar die staatliche Hoheit über das Schulische: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ Man kann das auf zwei Weisen deuten. 1. als Qualitätssicherung: Um abzusichern, dass die Schulen den Kindern alle wichtigen Fähigkeiten vermitteln, werden sie staatlich beaufsichtigt. 2. politisch: Um zu gewährleisten, dass den Kindern ein verfassungskonformes Weltbild vermittelt wird, hält der Staat seine Hand auf die Schulen. Ich vermute, dass beides eine Rolle spielt. Und beides ist ja auch legitim. Nur was bedeutet das für unser Verständnis von Erziehung?

Beispiel Brandenburg

In der Verfassung des Landes Brandenburg sind sowohl ein Recht auf Bildung (Art. 29, Abs. 1) als auch die allgemeine Schulpflicht (Art. 30, Abs. 1) verankert. Als Grundsätze der Bildung und Erziehung wird formuliert (Art. 28):
„Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern.“
Das Brandenburgische Schulgesetz (BbgSchulG) konkretisiert die normativen und politischen Ziele, die in den Schulen gefördert werden sollen. Einerseits sind Schulen zu Toleranz gegenüber verschiedenen Weltanschauungen usw. verpflichtet, dürfen nicht einseitig beeinflussen und müssen Diskriminierung entgegenwirken (§4, Abs. 4). Andererseits wird sehr konkret gesagt, was zu fördern ist:
Leistungsbereitschaft, Kritikfähigkeit, Kreativität, Eigeninitiative, Gerechtigkeit, Solidarität, friedliche Konfliktlösungen, Gleichberechtigung, Anerkennung der eigenen Rechte und der Rechte anderer, Verantwortungsbewusstsein, Förderung einer demokratischen Gesellschaft, sich gegen Gefahren von Gewaltherrschaft einzubringen, Würde und Gleichheit aller Menschen, Bürgerschaft eines gemeinsamen Europa, Gesundheits- und Umweltverantwortung, Verständnis für Menschen mit Beeinträchtigungen. (Alles aus §4, Abs. 5)
In den Verfassungen und Schulgesetzen anderer Bundesländer sind, auch wenn sie sich unterscheiden, letztlich ähnliche Inhalte und Ziele festgesetzt.

Am Beispiel der Gesetze des Landes Brandenburg (Verfassung und Schulgesetz, siehe Box) kann man sehen, dass beide Ziele eine Rolle spielen: Selbstverständlich wird das Recht auf Bildung betont. Es werden aber auch sehr konkrete politisch-gesellschaftliche Werte und Normen aufgeführt, die als übergeordnete Ziele schulischer Bildung – neben den konkreten Unterrichtsinhalten – verstanden werden. Hierbei handelt es sich zwar um sehr allgemeine Idealvorstellungen, trotzdem zeigen sie, dass die Schulpflicht eben nicht nur auf die Gewährleistung des kindlichen Rechts auf Bildung ausgerichtet ist, sondern auch auf eine darüber hinausgehende gesellschaftlich-politische Erziehung der Kinder in die bestehende Gesellschaft und ihre Werte hinein. Die dabei einerseits geforderte weltanschauliche Neutralität und die andererseits sehr konkreten normativen Lehr- und Erziehungsziele scheinen mir dabei zum Teil durchaus im Widerspruch zueinander zu stehen.

Doch nehmen wir es einmal so hin. Schule soll nicht nur bilden, sondern auch den gesellschaftlich-politischen Auftrag erfüllen, Kinder zu guten demokratischen Staatsbürger*innen zu erziehen. Und natürlich ist es auch wahr, dass das staatliche Schulwesen ein geeigneter Ort ist, um Kindern das politische System des eigenen Landes näherzubringen und ihnen wichtiges Orientierungswissen als Bürger*innen bereitzustellen.

Erziehungsziel: Verhinderung von Faschismus

Kürzlich habe ich Theodor W. Adornos (1903–1969) Buch „Erziehung zur Mündigkeit“ (1970) gelesen. Das ist ein Sammelband, der aus Essays und Gesprächen mit dem Bildungsforscher Hellmut Becker (1913–1993) besteht, die zwischen 1959 und 1969 – Adornos Todesjahr – entstanden sind.
„Mündigkeit“ als Erziehungsziel scheint auch durch die genannten Schulgesetzestexte hindurch. Sie gilt als eine der Grundeigenschaften des „idealen Bürgers“ einer Demokratie und ist damit ein gutes Beispiel für ein politisches Erziehungsziel von Schule (und von Erziehungshandeln überhaupt).
Im Hintergrund westdeutscher pädagogischer Diskussionen dieser Zeit steht überdeutlich immer die Erfahrung des Nationalsozialismus und die Frage: Wie kann so etwas in Zukunft verhindert werden, wie kann man vor allem gewährleisten, dass sich ein Menschheitsverbrechen wie der Holocaust nicht wiederholt?

Der Schock saß in der gesamten bundesdeutschen Geistesgeschichte tief. Insbesondere Adorno und sein Kollege Max Horkheimer (1895–1973), die die NS-Zeit im Exil verbracht hatten, formulierten wichtige Teile ihrer Philosophie im Anschluss an und als Antwort auf diesen Zivilisationsbruch. Besonders deutlich wird das in der „Dialektik der Aufklärung“. Dieses Buch, eines der bedeutendsten der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts, geht der Frage nach, wie es so weit kommen konnte. Dabei formulieren sie die These, dass es die Aufklärung selbst sei, die in ihr Gegenteil umgeschlagen sei (daher der Terminus „Dialektik“, der von Karl Marx [1818–1883] stammt) und so den ihr ideologisch doch eigentlich entgegenstehenden Faschismus ermöglicht hatte.
Das Verdienst des Buches besteht darin, die Aufklärungserzählung, die seit dem 18. Jahrhundert fester Bestandteil des bürgerlich-demokratischen Denkens war, aus einer im Grunde aufklärerischen Perspektive in Frage zu stellen. Dabei wenden Horkheimer und Adorno sich gar nicht grundsätzlich gegen Aufklärung, deren erklärtes Ziel die Mündigkeit der Bürger*innen ist, sondern stellen vielmehr die Frage, ob die Aufklärung eine Art „Selbstläufer“ ist (wie Kant das zum Beispiel zu glauben scheint), oder ob man nicht doch sorgfältiger dafür sorgen müsse, sie nicht in Gefahr zu bringen. Dafür arbeiten sie heraus, an welchen Punkten die Aufklärung sich sozusagen selbst zu Fall bringt und in Anti-Aufklärung umschlägt. So bieten sie eine Erklärung an, wie etwas wie der Faschismus in der Moderne, von der man zeitweise dachte, dass sie automatisch immer aufgeklärter und „besser“ werden würde, überhaupt möglich wurde.
Die Frage, wie der Gedanke der Aufklärung sich dauerhaft sichern ließe, bleibt bei ihnen allerdings systematisch offen. Sie denken ohne ein letztes Fundament. (Was ihnen die Kritik von Jürgen Habermas [*1929] eingebracht hat. In meiner Dissertation habe ich mich dieser Auseinandersetzung intensiver gewidmet.)

Wie sehr ihn die aufklärerischen Werte weiterhin, und gerade als Antwort auf den Nationalsozialismus, umtreiben, zeigt sich in Adornos Texten aus dem Band „Erziehung zur Mündigkeit“.1 Sie sind, so kann man ohne Übertreibung sagen, revolutionär. Zugleich sind sie es auch nicht. Sie fügen sich ein in reformpädagogische Theorien, die zum Teil bereits um 1900 entwickelt wurden, aber längst noch nicht in der schulischen Praxis verbreitet waren. Mit den 68er-Bewegung gab es hier einen neuen Schub, in den Adorno mit seinen Überlegungen einzuordnen ist, gilt er ja auch insgesamt als ein geistesgeschichtlicher Wegbereiter der 68er-Bewegung.
Die in dem Band enthaltenen Texte zeigen eine gewisse Widersprüchlichkeit, die sich ähnlich in der Ambivalenz findet, in der in unserer heutigen Gesellschaft Erziehung verhandelt und vollzogen wird.

Adorno: Mündigkeit, Gewaltlosigkeit und Autorität

Zwei Ziele stehen für Adorno im Mittelpunkt des Erziehungshandelns: Mündigkeit und Gewaltlosigkeit. Diese beiden Aspekte scheinen wenig miteinander zu tun zu haben, hängen aber argumentativ zusammen.
Die zentrale Grundannahme besteht darin, dass Demokratie Mündigkeit braucht: „[… ] eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.“ (S. 1072) Doch wie kann Mündigkeit Ziel von Erziehung sein? Mündigkeit und die ihr innewohnende Freiheit verträgt sich nicht mit Bevormundung, wie Erziehung manchmal auch verstanden wird. Und selbst wenn man nicht von Bevormundung spricht, so ist Erziehung doch in gewisser Weise Formung von außen und widerspricht so eigentlich der Idee von Freiheit und Selbstverantwortung, die ja Erziehungsziele sind. Auch die Schule beschneidet die Freiheit von Kindern, um sie wiederum zu guten, mündigen Bürger*innen zu erziehen.

Man könnte nun argumentieren, wie es auch der lateinische Wortstamm nahelegt, dass Kinder nun einmal „unfertige“ Menschen seien und aus diesem Zustand herausgeführt [educere/educare] werden müssten. Aber ich glaube, da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wie soll man durch Unfreiheit Freiheit beibringen, durch autoritäres Gebaren Mündigkeit herstellen?
Adorno sieht ebenfalls das Problem, dass man nicht auf „entmündigendem“ Weg Mündigkeit herstellen kann und bietet daher einen anderen Blick auf Erziehung als „nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch [als] bloße Wissensübermittlung […], sondern [als] Herstellung eines richtigen Bewusstseins.“ (S. 107, Herv. i. Orig.)
Kant definiert ja die Aufklärung als Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Also als etwas, das aus sich selbst heraus entwickelt werden muss – und dem die grundsätzliche Möglichkeit dieser Freiheit (den eigenen Verstand zu gebrauchen) vorausgesetzt ist. Nur wie kann dies als Lehrinhalt vermittelt werden?

Ein zentraler Punkt für diese Frage ist der Begriff der Autorität. Autorität markiert ein Machtgefälle und eine „Weisungsbefugnis“. Wenn Erziehung gedacht wird als etwas, bei dem Erwachsene – ob Lehrer*innen oder Eltern – Kinder in eine Richtung leiten, dann haben wir hier wiederum mindestens ein Kompetenzgefälle. Eine Person, die weiß, wo es langgehen muss, und eine Person, die folgen soll. Die Frage ist nun, wie die Erwachsenen ihre Erziehungsziele im Zweifel erreichen, sie durchsetzen. Hier kommt die Autorität ins Spiel. Adorno braucht sie für seine Überlegungen und lehnt sie zugleich ab, denn sie steht der Mündigkeit, der Selbstverantwortlichkeit, entgegen.
Sie ist vor allem auch abzulehnen, weil sie sich häufig in gewalttätigem Verhalten niederschlägt. Weil sie die absolute Macht der Eltern und Lehrer*innen über die Kinder bedeutet – und analog in der Hierarchie der Diktatur auch der Machthabenden über die Bürger*innen. Dieser Gewalt gilt es eigentlich, sich entgegenzustellen, und das schon in der Erziehung.
Adornos These ist, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt erfahren haben, selbst gewalttätig handeln werden. Dass es daher darum gehe, Weichheit zu fördern, statt Härte, die bis heute als Erziehungsziel in manchen Köpfen herumspukt. In seinen Überlegungen zur Erziehung, die über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden sind, stellt Adorno auch psychologische Überlegungen an, nutzt wiederholt Konzepte der Psychoanalyse, und nimmt auch ein Stück weit das vorweg, was die Psychologin Alice Miller einige Jahre später in ihren Büchern ins Bewusstsein der Öffentlichkeit brachte: Dass Gewalttätigkeit wesentlich durch eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit bedingt ist. (Was aber nicht bedeutet, dass jedes Kind, das Gewalt erfährt, später selbst gewalttätig wird – umgekehrt ist aber Gewalttätigkeit durch Gewalterfahrungen in der Kindheit erklärbar.)
In einem Text schreibt er:

„Fürchtete ich nicht das Mißverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten.“
S. 40, aus dem Text „Philosophie und Lehrer“, 1962

Den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, darum geht es. Denn Eltern und Lehrer*innen wurden ja selbst in einer, wie Adorno es nennt, „barbarischen“ Gesellschaft sozialisiert. Er empfiehlt, dass Kinder zur „Zartheit“ erzogen werden, sodass sie sich selbst schämen, wenn sie gewalttätig werden (vgl. S. 131f.)

Dabei kommt allerdings in Adornos Überlegungen die Autorität wieder ins Spiel: Man brauche sie schon für das Erreichen des Erziehungsziels Gewaltlosigkeit. Um die Kinder „zarter“ zu machen, soll gewalttätigem Verhalten einerseits sofort Einhalt geboten werden. Dabei sollen die vorhandenen Aggressionen, die bei kleinen Kindern auftreten können, ihren Raum erhalten und gleichzeitig soll mit der „Verarbeitung“ begonnen werden (vgl. S. 130f.). (Das psychoanalytische Vokabular scheint hier besonders deutlich durch.)
Das muss aber ganz offenbar von außen angeleitet werden, indem man auch mal ein Kind „auf die Pfoten“ haut, wenn es ein Tier quält (S. 131). Dabei nutzt man ganz klar Autorität, aber es kommt auf ihre Ausgestaltung an. Im Sinne der Entwicklung des Kindes soll die Autorität nicht als Gewaltprinzip auftreten, sondern „ein Moment der Durchsichtigkeit auch für das Kind selbst haben“ (vgl. S. 130f.) – gemeint ist der Unterschied zwischen willkürlicher, allmachtsfantasierender elterlicher Autoritätsanwendung, die zur „Bildung eines rigorosen, starren und zugleich veräußerlichten Über-Ichs“ (S. 131) führt, und der wohldosierten Anwendung zum Aufzeigen von Grenzen und zum Leiten hin zu einem gewaltfreien Miteinander. (Ob „auf die Pfoten hauen“ dabei wirklich die richtige Methode ist, sei allerdings nachdrücklich dahingestellt!)

Adorno: Widerstand und Widerspruch

Die Idee einer konsequent gewaltlosen Erziehung ist in ihrer Zeit bemerkenswert, da sie das Prinzip der elterlichen Autorität in Frage stellt und im Grunde auch das System Schule – zumindest in der Form, in der es in den 1960er Jahren in Deutschland existierte.
Die Forderung, Mündigkeit, ja sogar Autonomie als Erziehungsziel zu setzen, ist aber im Grunde noch radikaler. Mit Autonomie meint Adorno „die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“. (S. 93) Denn es reicht eben nicht, Sonntagsreden zu halten oder Mündigkeit als schwammiges Ziel zu definieren, dem sich etwa durch Formen der schulischen Mitbestimmung angenähert wird. Stattdessen soll es „eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ (S. 145) sein. Es ist nichts weniger als die beständige Infragestellung des Gegebenen, die ständige Bereitschaft zum Aufbegehren, die Adorno als Ziel der Erziehung (und damit auch von Schule) setzt. Mit Kant versteht er Mündigkeit als eine „dynamische Kategorie, als ein Werdendes und nicht als ein Sein“ (S. 144) – also als etwas, das man nicht einmal lernt und dann kann, sondern als etwas, das man dauerhaft praktizieren muss.

Denkt man diese Überlegungen weiter, bedeutet das, dass die Erziehenden konsequent die Zügel aus der Hand geben und das Risiko der „falschen Richtung“, in die sich der Widerstand richten könnte, in Kauf nehmen. Dass sie auf Erziehung im Sinne einer Richtungsweisung und Autorität zu ihrer Durchsetzung in letzter Konsequenz verzichten.
Die bereits in der frühen Kindheit beginnenden Erziehung zur Gewaltlosigkeit hat Adorno vermutlich als Absicherung verstanden, als Richtungsgeber für die widerständige Haltung, die in Verkörperung der Mündigkeit das eigentliche Erziehungsziel bildet.

Wie schwierig und widersprüchlich diese Haltung ist, die Mündigkeit im Sinne der Demokratie fordert, weil sie damit jede Lenkung aufgeben muss, auch wenn man glaubt, man wisse es besser, zeigen auch die von Adorno gepflegten Ressentiments gegenüber der Jugendkultur, die sich in wiederholten Ausbrüchen durch den Band ziehen, etwa die vehemente Ablehnung der Beatles, bzw. des Hypes um sie (vgl. S. 80, S. 86). Darin scheinen auch die Konflikte auf, die Adorno, inhaltlicher Wegbereiter der Studierendenbewegung der 1960er-Jahre und Sympathisant ihrer Forderungen, in seinen letzten Lebensjahren mit dem realen Aktionismus der Studierenden hatte. Inhaltlich stimmte er vielem zu, mit der Form war er oft genug ganz und gar nicht einverstanden – vielleicht auch, weil dort eine Gewalttätigkeit durchschimmerte, die er gerade bekämpfen wollte.

Das klingt wie: Ja, zu Mündigkeit und Autonomie, zu Widerspruch und Widerstand soll die Jugend erzogen werden – aber doch bitte nicht gegen mich und meine eigenen Ansichten!
Darin steckte wiederum auch reale, wohlbegründete Kritik an der „Kulturindustrie“, die Adorno mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung formuliert. Dort arbeiten sie den manipulativen Charakter der kapitalistischen Kulturindustrie heraus, der letztlich die Menschen verblende und vom realen gesellschaftlichen Zustand ablenke. Entsprechend spricht er auch die Hoffnung aus, dass Erziehung zum Widerstand darin bestehen könnte, den Jugendlichen gerade kulturindustrielle Produkte zu zeigen und ihnen den „Schwindel“ deutlich zu machen:

„Ich könnte mir etwa denken, daß man auf den Oberstufen von höheren Schulen, aber wahrscheinlich auch von Volksschulen gemeinsam kommerzielle Filme besucht und den Schülern ganz einfach zeigt, welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist; daß man in einem ähnlichen Sinn sie immunisiert gegen gewisse Morgenprogramme, wie sie immer noch im Radio existieren, in denen ihnen sonntags früh frohgemute Musik vorgespielt wird, als ob wir, wie man so schön sagt, in einer ‚heilen Welt‘ leben würden, eine wahre Angstvorstellung im übrigen; oder dass man mit ihnen einmal eine Illustrierte liest und ihnen zeigt, wie dabei mit ihnen unter Ausnutzung ihrer eigenen Triebbedürftigkeit Schlitten gefahren wird; oder dass ein Musiklehrer, der einmal nicht aus der Jugendmusikbewegung kommt, Schlageranalysen macht und ihnen zeigt, warum ein Schlager oder warum meinetwegen auch ein Stück aus der Musikbewegung objektiv so unvergleichlich viel schlechter ist als ein Quartettsatz von Mozart oder Beethoven oder ein wirklich authentisches Stück der neuen Musik.“
S. 145f., aus dem Text „Erziehung zur Mündigkeit“, Gespräch mit Hellmut Becker, 1969

Ambivalenz der Freiheit

Es ist also ambivalent; Selbstdenken, Widerstand, hat bei Adorno durchaus eine bestimmte Richtung und natürlich steckt darin das „demokratische Paradox“: In dem Augenblick, in dem die Menschen selbst bestimmen können, können sie auch etwas entscheiden, was ihren eigenen Wünschen oder den demokratischen Prinzipien entgegensteht.
Das ist das Risiko der Freiheit, das sich auch durch das beste Sicherungssystem nicht ganz ausschließen lässt.

Auch für die Erziehung ist die Frage der Freiheit zentral. Die Überzeugung, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind, ist die Grundlage des aufklärerischen Denkens. Es ist nur konsequent, das auch auf die Erziehung anzuwenden. Denn wo sollen die freien und mündigen Bürger*innen herkommen, wenn Kinder zu Gehorsam erzogen werden?
Daher ist Adorno ganz klar in der Forderung, dass man nicht einfach einem anderen Menschen seinen Willen aufzwingen darf. Doch was heißt dann noch „Erziehung“? Für Adorno vermutlich die wohldosierte Anwendung durchsichtiger Autorität, – also nur das absolut notwendige Minimum an Autorität, gegen die zudem jederzeit Widerstand möglich ist und in deren Angesicht Autonomie entwickelt werden könnte.

Ich glaube, das ist kein schlechter Leitfaden für eine Erziehung zur Mündigkeit, zur Demokratie. Das systematische Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen darf man dabei allerdings nicht kleinreden. Autonomie und Widerspruchsgeist können sich nur entwickeln, wenn die Erwachsenen dieses Machtgefälle fortwährend reflektieren, es auch den Kindern transparent machen („durchsichtige Autorität“) und es niemals ausnutzen. Sie können ihren Wissens- und Entwicklungsvorsprung aber nutzen, um etwa für Mitgefühl und Gewaltlosigkeit zu werben und Eigenverantwortung – Mündigkeit! – vorzuleben.

Das ist allerdings eine große Aufgabe für die Erziehenden, denn es bedeutet, die eigene Mündigkeit zu entwickeln. Es heißt auch beständige Selbstreflexion und Hinterfragen der eigenen autoritären Denk- und Handlungsmuster, denn bis heute sind wir längst nicht an dem Punkt angekommen, dass alle Kinder zart, mit Liebe und gewaltfrei „erzogen“ werden.
Schule als Institution, wie sie heute besteht, widerspricht dem Prinzip der Mündigkeit und der Autonomie ebenfalls. Ich würde sogar sagen, dass die Prinzipien des Gehorsams und der Bewertung von außen (Lob für die Angepassten, Tadel für die Aufmüpfigen), die nach wie vor Grundpfeiler der schulischen Organisation sind, die Entwicklung von Selbstverantwortung und Mündigkeit geradezu unterbinden. Denn es wird ja nicht freiwillig oder „für das Leben“ gelernt – sondern für den nächsten Test, den guten Abschluss, weil die Eltern Druck machen oder einfach nur, weil man eben muss. Oft genug wird auch gar nicht wirklich gelernt, sondern die Zeit „abgesessen“. Das ist oft die einzige Art des Widerstands, die den Kindern möglich ist und sie kann durch autoritäre Druckmittel wie schlechte Noten und „sitzenbleiben“ sanktioniert werden. Kindern, die sich dem ganz entziehen (und deren Eltern), drohen staatliche Zwangsmaßnahmen.

Natürlich geht in den Schulen heute alles viel freier zu und es gibt sehr viele sehr gute Lehrer*innen, keine Frage. Im besten Fall ist ihre Motivation, möglichst vielen Kindern zur Verwirklichung ihrer Bildungschancen zu verhelfen und ihre Entwicklung einer freien, mündigen Persönlichkeit zu unterstützen. Aber es hängt eben ganz von der Lehrperson ab, ob Widerspruch geduldet wird, ob Widerstand als etwas unterstützenswertes – nämlich als Zeichen sich entwickelnder Mündigkeit – oder als etwas zu unterdrückendes verstanden wird. Ihre Persönlichkeit (und pädagogische Kompetenz) entscheidet, ob die Kinder mit durchsichtiger oder mit absolutistischer Autorität zu tun haben; ob sie also lernen, zu gehorchen – oder ob sie sich mit tatkräftiger Unterstützung der Schule auf den Weg machen, ihre Freiheit und ihre Mündigkeit zu entwickeln.
Im System liegt eher die Verhinderung von Widerspruchsgeist und Autonomie, denn die guten Abschlüsse bekommen die, die im System funktionieren und tun, was von ihnen erwartet wird. Wenn Autonomie dennoch verwirklicht wird, liegt es an einzelnen Schulen und Lehrpersonen, die sich der autoritären schulischen Logik bewusst widersetzen. Sie gehen damit das Risiko der Freiheit ein: Dass es nämlich auch „schief gehen“ kann. Aber anders ist wahre Freiheit, so glaube ich, nicht zu haben.

Erziehung zur Mündigkeit, freiheitliche Erziehung muss also heißen: Erziehung mit Risiko und ohne Garantie, dass das Ziel auch erreicht wird. Erziehung, die bewusst nicht jedes Mittel zu ihrer eigenen Durchsetzung einsetzt – um die Saat der Freiheit zu säen und das zarte Pflänzchen der Autonomie nicht direkt wieder auszurupfen.

Anmerkungen

  1. Im Folgenden greife ich nur einen kleinen Teil der Argumente Adornos auf, die sich mit Hinblick auf die Fragestellung hier anbieten. Tatsächlich könnte man noch sehr viel mehr aus diesen Texten herausarbeiten, das der Diskussion wert wäre. ↩︎
  2. Dieses und alle folgenden Zitate und Literaturstellen stammen aus: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. ↩︎
Originaltexte

Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970.
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2013 (21. Aufl.).

Weiterführend

Zur Kritik an Adornos Aufklärungskritik:
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 130–157.

Analyse dieser Kritik in meiner Dissertation:
Johanna Wischner: Fundamentalismuskritik. Eine Neubetrachtung der politischen Philosophien von Foucault, Habermas und Rorty. Frankfurt a. M / New York: Campus 2022, S. 99–121.

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