Pragmatismus (2): Wurzeln bei Peirce


„Der Pragmatismus“

von William James

Zum Mitlesen (leider nur im englischen Original): Volltext bei Project Gutenberg


Mein Anspruch, Theorien zwar verständlich, aber dabei nicht oberflächlich zu behandeln, führt zu Texten, die eigentlich zu lang sind für das Internet. Deshalb bin ich in letzter Zeit dazu übergegangen, die Texte zu unterteilen und ein Thema umfassend in mehreren Texten zu behandeln. Hier kommt der zweite Teil einer Serie zu William James‘ Buch „Der Pragmatismus“ – einem zentralen Werk aus der Frühphase der philosophischen Strömung Pragmatismus. (Du kennst den ersten Teil noch nicht? Dann hier entlang.)

In diesem Teil tauchen wir ein in die Vorgeschichte des Pragmatismus und lernen den Begründer dieser Philosophie – Charles Sanders Peirce – und seine philosophischen Ansätze kennen.


Was ist Pragmatismus? Die wurzeln bei C. S. Peirce

„Was ist…?“ ist immer eine heikle Frage, wenn man sie Philosoph*innen stellt. Denn dann fangen die erst an, richtig auszuholen. Aber gut, was soll’s, versuchen wir es trotzdem.

Dem Pragmatismus, in seinen ganz unterschiedlichen Ausprägungen, geht es darum, Handeln und Denken miteinander zu verkoppeln. Er versteht sich damit als Gegenbewegung zum Rationalismus (René Descartes, 1596–1650: „Ich denke, also bin ich.“), der als zu vergeistigt kritisiert wird. Gleichzeitig lehnt der Pragmatismus auch einen Empirismus ab, der gar nichts Geistiges zulässt, sondern alles, was auf der Welt geschieht, materialistisch deutet. Diese Kluft zwischen Rationalismus und Empirismus, für die der Pragmatismus den goldenen Mittelweg darstellen will, spielt eine zentrale Rolle in James’ Buch, doch dazu später mehr.

Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück zu Charles Sanders Peirce, dem „Erfinder“ des Pragmatismus: Peirce gilt als erster herausragender amerikanischer Philosoph. In seiner Jugend hatte er – so zumindest die Legende – bereits intensiv Kant studiert, außerdem beschäftigte er sich mit Naturwissenschaften, Mathematik und Logik. Die Logik war für ihn deswegen so wichtig, weil er verstehen wollte, wie Forschung funktioniert: Wie ist es möglich, neue Erkenntnisse zu erlangen und Irrtum zu vermeiden? Ohne auf die Details der Theorie zu logischen Schlüssen einzugehen, (dafür bräuchte es einen eigenen Text, aber schau mal in die Box unten.) kann man doch sagen, dass Peirce einen wichtigen Punkt herausarbeitete: Es reicht nicht, eine in sich widerspruchsfreie Theorie zu haben, wir brauchen auch eine Rückkopplung an die (materielle) Welt. Das heißt, Forschung muss eine Pendelbewegung vollziehen und sich zwischen Materie und Geist hin- und herbewegen. Letztlich funktionieren Experimente genau so: Wir beobachten etwas, wir stellen eine Hypothese auf, warum das so ist und wir prüfen unsere Hypothese durch Experimente. Das heißt: Forschen ist eine ständige Bewegung zwischen unserem Denken und dem Beobachten der Welt. Beides verbinden wir ständig in unserem Handeln: Durch Experimente, aber auch im Alltag. Ich weiß schon, warum ich eine Kugel nicht auf einer schiefen Ebene ablege – denn mir ist klar, dass die Schwerkraft sonst dafür sorgen wird, dass sie wegrollt.

Diese Art der Überzeugungen steuern unser Handeln tagtäglich. Wir können nur erfolgreich handeln, weil wir einen ganzen Berg an Überzeugungen über die Welt haben, die es uns ermöglichen, zielgerichtet zu handeln. Nur wenn ein Plan einmal nicht aufgeht, kommen wir ins Grübeln. Zum Beispiel: Ich will den Bus um 12:35 Uhr nehmen und finde mich um 12:34 Uhr an der Haltestelle ein. Aber der Bus kommt in den folgenden Minuten nicht. Ich wundere mich und denke darüber nach, woran das wohl liegen könnte: Eine Möglichkeit ist, dass der Bus Verspätung hat und noch kommen wird. Ich könnte also noch 10 Minuten warten, vielleicht kommt er dann. Meine bisherige Lebenserfahrung sagt mir vielleicht, dass das die wahrscheinlichste Erklärung ist. Es könnte aber auch sein, dass ich mich getäuscht habe und der Busfahrplan ist anders oder hat sich kürzlich geändert und der Bus ist zum Beispiel schon um 12:30 Uhr gefahren. Dann muss ich meine Überzeugung, dass der Bus um 12:35 Uhr fährt, korrigieren. Es könnte aber auch sein, dass mit dem Bus, seiner Pünktlichkeit und dem Fahrplan alles in Ordnung ist – dass aber meine Uhr stehen geblieben ist und ich viel zu spät an der Haltestelle angekommen bin. Egal, wie meine Lösung lautet: Für die Zukunft bin ich schlauer. Ich weiß, warum der Bus nicht so gekommen ist, wie ich dachte. Ich kann vielleicht meine falschen Überzeugungen über den Busfahrplan korrigieren oder meine Uhr neu stellen, bzw. die Batterie austauschen.

Diese Art des Dazulernens – ich tue etwas, werde von den Ergebnissen meiner Handlung überrascht, überlege, wie diese zustande gekommen sind und habe am Ende neue Überzeugungen über die Welt bzw. meine Überzeugungen angepasst – funktioniert im Alltag, aber in der empirischen (naturwissenschaftlichen) Forschung im Grunde genauso.

Der Punkt, den Peirce jetzt macht, ist nicht bloß, dass wir eben an der Welt dazulernen und dies auch für unsere wissenschaftlichen Experimente nutzen können. Dahinter steckt eine philosophische Aussage über die Beziehung von Theorie und Praxis und eine Stellungnahme zur Frage, wie wir Begriffe bestimmen können: wie dieses philosophische „Was ist XY?“ befriedigend beantwortet werden kann. Denn klare Begriffe brauchen wir, um wahre Aussagen über die Welt treffen zu können. Das war das Ziel von Descartes. Descartes stellte sich das Bewusstsein als einen Spiegel vor, also als Möglichkeit, durch reines Beobachten und Nachdenken Erkenntnisse zu erlangen; ganz ohne selbst in die Welt einzugreifen. Das, was wir klar und deutlich (Descartes: „clare et distincte“) erkennen können, darauf sei auch Verlass.

Peirce kritisiert bei Descartes und mit ihm im Rationalismus den mangelnden Bezug zum Handeln in der Erkenntnis. Denn was genau soll eine klare und deutliche Erkenntnis sein? Eine Art göttliche Eingebung über die Bestimmung von Begriffen? Nein. Peirce sagt: Wir verstehen einen Begriff dann klar und deutlich und können ihn umfassend bestimmen, wenn wir uns klar machen, welche praktischen Folgen er hat und zu welchem Handeln er uns anleitet. Nicht in dem Sinne, dass er uns Befehle erteilt, sondern in dem Sinn, dass er uns zielgerichtetes Handeln und die Abschätzung von Handlungsfolgen ermöglicht.

Ein Begriff ist für Peirce also dann vollständig und klar bestimmt, wenn wir verstanden haben, welche Folgen er in der Welt hat. Ein gutes Beispiel dafür, das Peirce selbst nennt, ist der Begriff „Kraft“: Wenn wir verstehen, was Kraft macht und wie wir mit Kraft in unserem eigenen Handeln umgehen müssen (z.B. eine Vorstellung davon haben, was passiert, wenn wir einen Ball in Richtung einer Wand werfen), verstehen wir, was Kraft ist. Dieses Wissen sollte natürlich möglichst umfassend sein, möglichst alle Aspekte von Kraft erfassen. Es braucht aber kein Wissen über ein mysteriöses „Wesen“ der Kraft. Es reicht, zu verstehen, was sie tut.

Auf diese Weise ist im Pragmatismus das Denken und Wissen – unsere Überzeugungen über die Welt – ganz eng verknüpft mit unserem Handeln in der Welt. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Es gibt also nicht entweder Materialismus oder Rationalismus, sondern beides brauchen wir, für ein umfassendes Verständnis der Realität.

Peirce geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt Vermutungen über das Wesen des Menschen an: Der Mensch sei mit der besonderen Fähigkeit ausgestattet, in diesem Zusammenspiel zwischen Denken und Handeln, zwischen der Welt als Materie und ihrer rationalen Erklärung, sich besonders gut zurechtzufinden. Der Mensch, so seine Vermutung, habe einen besonderen Sinn für die Zusammenhänge in der Welt und komme so in der Forschung oft erstaunlich schnell vorwärts. Gemessen an den Myriaden von möglichen Erklärungen für ein Phänomen finde die Menschheit oft „instinktiv“ verhältnismäßig schnell die richtige. Das Zusammenspiel aus Theorie und Praxis, aus Materie und Rationalität ist also nicht nur eine bestimmte philosophische Deutung der Welt, wie sie der Pragmatismus vertritt. Für Peirce ist diese Verschränkung von Theorie und Praxis der natürliche Raum für den Menschen und sein Denken und Handeln.

Logische Schlüsse

Die Logik ist ein eigener Zweig der Philosophie, Mathematik und Wissenschaftstheorie, mit dem sich Peirce intensiv befasst hat. Sie ist ein mächtiges Werkzeug, weil sie es erlaubt, Aussagen und Argumente, die einen Wahrheitsanspruch erheben, ihrer Struktur nach zu untersuchen. (Es würde natürlich zu weit führen, und meine Expertise überschreiten, hier ihre ganze Breite aufzufächern.) So kann man analysieren, warum manche Schlüsse stimmen und andere nicht.

Ein klassischer Fall und beliebtes Beispiel der aus Philosophiegeschichte für einen gültigen Schluss ist: (1) Alle Menschen sind sterblich. / (2) Sokrates ist ein Mensch. / (3) Also ist Sokrates sterblich. Wenn (1) und (2) wahr sind, ist (3) notwendig auch wahr. Dafür müssen wir nicht in die Welt schauen, das liegt einfach in der Struktur des Arguments. Bezogen auf die Forschung ist das ein deduktiver Schluss, eine immer wahrheitserhaltende Schlussart, die vom Allgemeinen auf das Besondere schließt. Das bedeutet auch, wenn Satz (1) oder (2) falsch sind, ist auch die Wahrheit von (3) nicht mehr gesichert.
Daneben gibt es noch den induktiven Schluss. Das ist die Schlussart, mit der man vom Besonderen auf das Allgemeine schließt. Etwa: (1) Sokrates ist sterblich / (2) Sokrates ist ein Mensch / (3) Also sind alle Menschen sterblich. Dieser Schluss ist nicht streng wahrheitserhaltend, denn wenn wir einen Menschen finden würden, der nicht sterblich ist, hätten wir diesen Schluss widerlegt. Trotzdem sind induktive Schlüsse für die empirische Forschung notwendig, denn sie ermöglichen das Ableiten allgemeiner Prinzipien aus einzelnen Beobachtungen. Allgemeine Prinzipien lassen sich nicht beobachten: Wie sollte man zum Beispiel die „allgemeine Sterblichkeit von Menschen“ beobachten können? In der Regel wird auch nicht aus einer einzelnen Beobachtung induktiv direkt ein allgemeines Prinzip abgeleitet, sondern aus wiederholten Beobachtungen oder ganzen Beobachtungsreihen, in denen man vielleicht sogar versucht, Gegenbeispiele zu finden.
Ein bekanntes und anschauliches Beispiel ist die Sache mit den Schwänen: Wenn ich mich in Deutschland in der Nähe von Gewässern aufhalte, werde ich immer wieder Schwäne sehen. Und diese sind vermutlich alle weiß. Ich könnte also den (induktiven) Schluss ziehen, dass alle Schwäne weiß sind. Das ist ein durchaus sinnvoller Schluss. Wenn ich aber nach Australien reise (oder in den Zoo gehe), kann es passieren, dass ich auf ein Exemplar der Art Cygnus atratus treffe – und das wäre ein schwarzer Schwan. Das heißt: Auch wenn mein Schluss sinnvoll war und an vielen Exempeln überprüft wurde, kann ich mir doch nie ganz sicher sein, dass das von mir geschlossene Prinzip (alle Schwäne sind weiß) allgemein gültig ist.
Karl Popper (1902–1994) hat das zum Zentrum seiner Wissenschaftstheorie gemacht und gefordert, dass eine Theorie, die auf empirischen Beobachtungen beruht, immer falsifizierbar sein muss, also „falsch-mach-bar“. Das bedeutet, eine Theorie muss mitdenken, dass sie sich als falsch erweisen kann – zum Beispiel, wenn ich einen schwarzen Schwan sehe. Ich muss mich sogar bemühen, alle Informationen zu sammeln, die ich kriegen kann (bzw. entsprechende Experimente zu machen), die für die Falschheit meiner Hypothese sprechen. Je mehr davon ich ausräumen kann, desto verlässlicher ist meine Theorie.

Charles S. Peirce hat nun, und das zeigt, wie zentral seine Theorie durch Forschungen zur Logik bestimmt ist, eine dritte Schlussart konzipiert, die er „Abduktion“ nennt. Damit fasst er auf logischer Ebene den Mechanismus, mit dem neue Hypothesen gefunden werden. Den Moment der Überraschung, in dem unsere bisherigen Überzeugungen über die Welt nicht mehr funktionieren und in dem die handelnde Person eine neue Erklärung dessen entwickeln muss, was geschehen ist. Und dabei passiert etwas Bemerkenswertes: Die Person, die die Erklärung sucht, synthetisiert aus ihrem bisherigen Wissen und ihren bisherigen Erfahrungen Hypothesen, die erstaunlich oft funktionieren. Diese Art des Schließens, das zum Teil unbewusst passiert, nennt Peirce „Abduktion“. Folgendes Zitat von Peirce macht die ganze Erstaunlichkeit dieses Prozesses deutlich:

„Ein Physiker begegnet einem neuen Phänomen in seinem Laboratorium. Woher weiß er, daß nicht die Konjunktionen der Planeten etwas damit zu tun haben oder daß es vielleicht deshalb nicht so ist, weil die Kaiserinwitwe in China zur selben Zeit zufällig ein Wort von mystischer Kraft ausgesprochen hat oder vielleicht ein unsichtbarer Dschin anwesend sein kann? Denken Sie an die vielen Millionen und Abermillionen von Hypothesen, die gemacht werden könnten, von denen nur eine wahr ist; und doch trifft der Physiker nach zwei oder drei oder höchstens einem Dutzend Vermutungen ziemlich genau die richtige Hypothese. Aus Zufall hätte er das wahrscheinlich die ganze Zeit über, seit sich die Erde verfestigte, nicht getan.“
(Peirce: CP 5.172)

Die Idee, die hinter dem abduktiven Schließen steckt, ist zentral für den Pragmatismus, denn sie veranschaulicht, wie Denken und Handeln zusammenhängen und unterstreicht damit die antidualistische Herangehensweise des Pragmatismus.

Literatur

Peirce hat zu Lebzeiten keine Monografie veröffentlicht, sondern seine Texte in kürzeren Zeitschriftenaufsätzen usw. publiziert. Viele seiner Texte sind zu Lebzeiten auch gar nicht veröffentlicht worden. Daher hat es sich eingebürgert, Abschnitte von Peirces Texten nach dem Werkverzeichnis „Collected Papers“ zu zitieren (wie z.B. das Zitat oben CP 5.172).
Es gibt thematische Zusammenstellungen aus den Collected Papers zu verschiedenen Themenkomplexen vom Meiner-Verlag. Wer sich für Peirce’ Philosophie des Pragmatismus interessiert, kann dort fündig werden:
Charles Sanders Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus. Hamburg: Meiner 1991.

Außerdem lesenswert:
Charles Sanders Peirce: Über die Klarheit unserer Gedanken. How to Make Our Ideas Clear. Frankfurt a. M.: Klostermann 2018 (4., erw. Aufl.). – zweisprachige Ausgabe.
Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.
Rorty (1931–2007) ist ein so genannter Neo-Pragmatist, der sich wie die frühen Pragmatisten intensiv am Rationalismus abgearbeitet hat und mit diesem Buch sogar einen direkten Bezug zu Descartes herstellt.
René Descartes: Meditationen.
Descartes‘ Hauptwerk und eins der wichtigsten Werke des Rationalismus. Dort findet sich das berühmte „Cogito-Argument“. (Ich denke, also bin ich.) Es gibt verschiedene Ausgaben, auch zweisprachige. Ich empfehle, wie immer, auf eine gute Übersetzung zu achten, etwa von Reclam oder Meiner.
Online finden sich ältere deutschsprachige Übersetzungen etwa hier: https://www.gutenberg.org/files/27532/27532-h/27532-h.htm und hier: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Descartes,+Ren%C3%A9/Untersuchungen+%C3%BCber+die+Grundlagen+der+Philosophie

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