Feminismus – Teil 4
Das Thema Feminismus beschäftigt mich schon mein Leben lang. Eins der vielen Dinge, in denen sich die Benachteiligung von Frauen zeigt: Man muss nicht Feministin sein. Aber wenn man für sich selbst Gleichberechtigung will, muss man sich politisch positionieren. Die Gleichberechtigung wird uns bis heute nicht einfach „gegeben“ – auch wenn Feministinnen der letzten Jahrzehnte viele wichtige Erfolge errungen haben.
Daher habe ich mich intensiv mit einigen philosophischen Aspekten des Feminismus befasst. Dieser Text ist aber derartig ausgeufert, dass ich mich entschieden habe, ihn in kürzere Stücke zu teilen und nach und nach zu veröffentlichen. Das hier ist der vierte und letzte Teil der Serie.
Was heißt Emanzipation? – Identitätspolitik –
Eine Grundlage feministischer Ansätze ist also die Frage, ob man von einer grundsätzlichen Gleichheit oder Unterschiedlichkeit der Geschlechter ausgeht. Eine weitere ist, wie genau „Unterdrückung“ (von Frauen) gedacht wird: Als konkrete Machtausübung von Männern über Frauen – von Vätern, Brüdern, Ehemännern, Chefs. Oder eher, bzw. auch, als strukturelles Phänomen, das gesellschaftliche Bedingungen bestimmt. Die Vorstellung von der Frau als „das Andere“ kann eine Erklärung dafür liefern, warum diese Benachteiligung systematisch ist und von Einzelnen auch nicht einfach überwunden werden kann: Weil die Normen auch dann wirksam sind, wenn eine Frau sich nicht „normgerecht“ verhält. Ein gutes Beispiel dafür ist Angela Merkel, die, obwohl sie sich im „Männerbetrieb“ CDU behauptet und durchgesetzt hatte und Bundeskanzlerin wurde, weiterhin nach ihrem Aussehen beurteilt wurde (zu weiblich? zu wenig weiblich?) und die als „Mutti“ der Nation bezeichnet wurde, obwohl Mütterlichkeit keine für ihr Amt relevante Eigenschaft war und „Mutti“ in dem Kontext als abfällig zu deuten ist. Vielleicht spiegelt sich darin auch die zweite „Normabweichung“ Merkels, die als Ostdeutsche (die Bezeichnung „Mutti“ ist vor allem in Ostdeutschland verbreitet) doppelt nicht der Norm des Politikbetriebs entsprach.
Eine weitere Grundlage des Feminismus ist die Annahme, dass sein Ziel die „Befreiung“ der Frauen sei. „Befreiung“ ist eine andere Formulierung für „Emanzipation“, die als (Selbst)Befreiung seit der Aufklärung ein demokratischer Leitwert ist, inzwischen aber vor allem auf die Gleichberechtigung von Frauen angewandt wird. Die Idee der Emanzipation bzw. Befreiung geht, grob gesprochen, von zwei Annahmen aus: 1. Es gibt Herrschaft und Unterdrückung und klar verteilte Rollen von Täter und Opfer dieser Unterdrückung. 2. Es gibt eine wahre Beschreibung der Welt, die noch nicht verwirklicht ist, aber verwirklicht werden sollte – und das wäre dann umfassende Befreiung. Z.B.: These: Die Wahrheit ist, dass Männer und Frauen gleich sind; Problem: Diese Wahrheit findet sich in der Welt nur unzureichend umgesetzt. Bisher ist es schwer für Frauen, die gleichen Rechte und die gleiche Anerkennung, die gleichen Machtpositionen wie Männer zu bekommen. Lösung: Um die Gleichheit von Männern und Frauen real umzusetzen, müssen diese Hindernisse beseitigt werden. In der Moderne wird „Emanzipation“ außerdem als Selbst-Befreiung verstanden. Es geht also auch um den Bewusstseinsprozess, darum, zu verstehen, dass man unfrei ist und dann für die eigenen Befreiung zu kämpfen.
In der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde der Leitwert Emanzipation in der so genannten Postmoderne-Debatte allerdings in Frage gestellt. Das, was bis hierher über die verschiedenen feministischen Strömungen gesagt wurde, lässt vielleicht schon ahnen, dass auch im Feminismus dieses Verständnis von Emanzipation nicht mehr ganz passend ist. Allein schon der strukturelle Blick auf Geschlechterverhältnis und Machtverteilung lässt die Grenzen zwischen „Tätern“ und „Opfern“ von Herrschaft verschwimmen, denn die gesellschaftlichen Bedingungen erzeugen „Unterdrückungsmuster“, die nicht einfach auf die einzelnen Individuen zurückgeführt werden können. Besonders deutlich wird das in der dritten Welle des Feminismus, die durch postmoderne theoretische Ansätze geprägt ist. Insbesondere im englischsprachigen Kontext wird der Feminismus ab den 1990er-Jahren oft als „postmodern“ bezeichnet. Die fundamentale Wahrheits- und Machtkritik postmoderner Theoriebildung spielt auch im intersektionalen Feminismus eine Rolle. Die „neue Unübersichtlichkeit“, in der nicht mehr von einfachen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen ausgegangen, sondern stattdessen ein komplexes System der Normen und Ausschlüsse angenommen wird, beruht auf der Machttheorie Foucaults. So lassen sich Diskriminierungsmuster differenzierter beschreiben, zum Beispiel die Diskriminierung homosexueller Männer: Als Männer werden sie von einer einfachen Lesart der Unterdrückung von Frauen durch Männer gar nicht erfasst. Weil sie aber von der Norm der Heterosexualität abweichen, erfahren sie ebenfalls Diskriminierung.
Die postmoderne Wahrheitskritik unterstützt hier den kritischen Impuls: In der Theorie Foucaults ist Wahrheit ein Zug im Spiel um die Macht, keine absolute Größe. Das heißt, von Wahrheit zu sprechen bedeutet, eine bestimmte Machtbeziehung zu unterstützen, zum Beispiel: Wenn ich sage, Männer sind stärker und belastbarer als Frauen und Frauen dafür sehr fürsorglich, dann stärke ich damit patriarchale Machtverhältnisse, denn viele Menschen werden dies als „Wahrheit“ in ihr Weltbild einbauen.
Dass viele Feministinnen die Vorstellung von einem „Wesen der Frau“ ablehnen, wurde ja bereits thematisiert. Denn das, was Frauen lange als „wesenhafte“ Eigenschaften zugeordnet wurde, kann als Versuch verstanden werden, Frauen von der Macht fernzuhalten. Wenn ich wirklich glaube, dass Frauen schwach und gefühlsbetont sind, dann ist es nur sinnvoll, sie zu Hause zu beschützen, ihnen nicht die Belastungen eines Berufslebens zuzumuten und ihnen schon gar nicht Regierungsgeschäfte zu übertragen. Denn wenn sie so gefühlsgesteuert sind, dann können sie ja gar keine rationalen Entscheidungen treffen. So funktionierte über Jahrhunderte die Argumentation, um Frauen zu entmachten und entrechten.
Auf einer breiteren Basis der Wahrheits- und Machttheorie lässt sich die These, es gebe keine „Natur der Frau“, die es rechtfertigen würde, Frauen eine andere gesellschaftliche Stellung als Männern zuzusprechen, noch einmal viel nachdrücklicher bestätigen. Man spricht auch von einer „antiessentialistischen“ Denkweise, wenn man sagen will, dass es ein allgemein bestimmbares Wesen der Frau (oder auch anderer Dinge) eben nicht gibt.
Klingt es einerseits wie eine Stärkung gleichheitsfeministischer Positionen (wobei die Behauptung „alle Geschlechter sind gleich“ ebenfalls als essentialistisch zu verstehen ist, denn das ist eine Aussage über das Wesen aller Menschen), eine allgemeine „Frauennatur“ abzulehnen, bringt es andererseits den Feminismus auch in die Bredouille, so im Grunde gar nicht mehr allgemein von „den Frauen“ sprechen zu können. Das hat aber zu Verunsicherungen geführt, wie es denn überhaupt noch möglich sei, sinnvoll feministische Forderungen aufzustellen, wenn man keinen sicheren Wahrheitsbegriff mehr hat und keine klare Definition, was eine Frau ist. Gayatri Chakravorty Spivak hat hierfür einen „strategischen Essentialismus“ vorgeschlagen, um trotz des Konstruktionscharakters von Identitäten politische Forderungen stellen zu können. Auch Butler, deren Werk stark dekonstruktivistisch geprägt ist, hält es für sinnvoll, die Kategorie „Frau“ beizubehalten, diese aber nicht an einer vorher definierten Identität festzumachen, sondern sie systematisch offen zu halten. Nur so kann, wie sie richtig bemerkt, ein echter Wandel der Geschlechter- und Machtverhältnisse ermöglicht werden (Kontingente Grundlagen, S. 48–50).
Wenn man den antiessentialistischen, dekonstruktivistischen Ansatz ernst nimmt, dann wird das Zentrum des Feminismus, „die Frau“, zur Leerstelle und der Kampf von einem „wir Frauen“ gegen „die Männer“ bzw. „das patriarchale System“ zu einem komplexeren Kampf um Machtbeziehungen und Diskriminierung. Intersektionale Ansätze nehmen genau diesen theoretischen Impuls auf. Er kann aber zu Verunsicherungen führen, weil man eben keine sicheren Standpunkte mehr hat, an denen man sich gedanklich „festhalten“ kann.
Es wird noch unübersichtlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass traditionelle Kategorien wie „die Frauen“ zwar einerseits dekonstruiert werden, weil sie nicht mehr das „Wesen“ von Menschen bestimmen. Andererseits sind die Kategorien ja nicht weg, sondern sie wirken als Normen weiter, die Menschen nicht nur von außen prägen, sondern auch verinnerlicht werden. Sie erwecken den Schein von Natürlichkeit bestimmter Denk- und Verhaltensmuster, wo es sich eigentlich um Machteffekte handelt. Das heißt, dass ich mich als Frau verstehe, ist in dieser Denkweise zwar nicht „natürlich“, aber dennoch real, denn es ist der Effekt bestimmter Muster, die unsere Gesellschaft prägen. Auch meine eigene Vorstellung von mir selbst, was ich für erstrebenswert halte, für wichtig und unwichtig, ist geprägt durch die Normen, unter denen ich meine Identität gebildet habe. Die Geschlechtsidentität spielt dabei nicht die einzige, aber eine wichtige Rolle.
Diese Normen aufzuarbeiten und als solche sichtbar zu machen, kann einen befreienden Effekt haben: Besonders für all diejenigen, die die Norm richtiggehend verletzt, weil sie ihr nicht entsprechen können oder das Ihr-Entsprechen ihnen Schmerzen zufügt (körperlicher wie seelischer Art), kann es eine Erleichterung sein, zu verstehen, dass die Normen in gewisser Weise zufällig sind. Es kann erleichternd sein, zu verstehen, dass diese Normen nicht die Essenz dessen ausmachen, was wir sein sollen, dass sie auch dekonstruiert werden können, dass wir, schlicht gesagt, ihre Erfüllung verweigern können, ohne unsere Identität zu verlieren. Man denke nur daran, wie wirkmächtig Normen darüber sind, wie sich „richtige“ oder „gute“ Frauen zu verhalten haben, wie sehr das jede weiblich sozialisierte Person prägt. Sobald die Erfüllung dieser Norm schwierig wird, aus welchen Gründen auch immer, ist es umso schmerzhafter, ständig damit konfrontiert zu werden, aus der Norm zu fallen, „falsch“ zu sein. Diesen Schmerz kann ein dekonstruktiver Ansatz bearbeiten und vielleicht sogar in Widerstand verwandeln. Das ist keine „Emanzipation“ im Sinne einer endgültigen Befreiung. Es ist eher eine prozesshafte, auf die konkrete Situation bezogene Ermutigung, die Verhältnisse nicht einfach so hinzunehmen. Dieser Impuls kann auch für umfassendere politische Kämpfe genutzt werden, auf strukturelle Diskriminierungen hinzuweisen und diese zu bekämpfen.
Ein dekonstruktiver Ansatz legt dabei das Denken in Allianzen nahe: Wenn man sich nicht einfach auf die Gemeinsamkeit „Frau-Sein“ berufen kann, um den eigenen Kampf zu begründen, muss man sich mit der komplexen Lage der gesellschaftlichen Machtgefüge auseinandersetzen und als weiße Feministin bspw. einsehen, dass man zwar als Frau gesellschaftlich benachteiligt ist, aber vom eigenen Weißsein profitiert. Das heißt, Solidarität unter all denen, die gesellschaftlichen Normierungen nicht entsprechen und von Ausschließungspraktiken betroffen sind, bedeutet, keine einfachen Täter-Opfer-Gegensätze mehr zu haben. Man muss dann genauer hinschauen und sehen, dass beispielsweise auch Männer – so sehr sie unbestritten weiterhin individuell vom patriarchalen System profitieren – ebenfalls bestimmten Normen unterworfen sind und ebenso unter der Gefahr des Ausschlusses stehen, wenn sie diese nicht erfüllen. Sie haben nur, mit de Beauvoir gesprochen, den Vorteil, dann, wenn sie sich normgemäß verhalten, automatisch als normgemäß, als Subjekte, wahrgenommen zu werden.1
Modern, Postmodern: Politisch
Mit Begriffen und Zuschreibungen – wie „Männer“, „Frauen“ – zu operieren, ohne diese letztgültig definieren zu können, ist eine Folge dekonstruktivistischer Ansätze, wie sie in der dritten Welle des Feminismus stark sind. Diese Kämpfe haben kein sicheres Fundament, sie haben keine eindeutige Identität, als eindeutig wahr anerkannte Wissensinhalte, auf die sie sich berufen können und anhand derer sich entscheiden lässt, ob eine politische Forderung richtig oder falsch ist. Sie haben keine absolut sicheren Wahrheiten, die als „Schiedsrichterinnen“ im politischen Kampf fungieren können.
Diesen Einwand äußern auch Vertreter*innen der Kritischen Theorie (eine wichtige philosophische Strömung des 20. Jahrhunderts) gegenüber postmodernen Ansätzen. Denn es besteht ein allgemeineres philosophisches „Problem“, wenn wir politische Forderungen nicht durch Wahrheiten – sowohl in Bezug auf die Beschreibung der Welt, als auch auf das, was gut, das heißt moralisch richtig ist – stützen können. Das war Jürgen Habermas’ großer Vorwurf an die von ihm so beschriebene postmoderne Philosophie. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, darauf aus philosophischer Perspektive zu reagieren, die hier aber zu weit führen würden (ein paar davon stelle ich in meiner Dissertation vor). Ich möchte aber zumindest einen Hinweis geben, um zu verstehen, wie groß die Frage ist: Sie geht weit über den Feminismus hinaus und betrifft den bereits angesprochenen, seit der Aufklärung zentralen politischen Wert der Emanzipation.
Im Aufklärungsbegriff selbst treffen sich (Selbst)Befreiung – also ein politischer Wert – und Wissen – also etwas auf die Rationalität bezogenes. Die klassische Formulierung Kants beinhaltet genau das: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Für Aufklärung ist also beides nötig: Die geistige Betätigung und der Mut, dies auch zu tun – zu denken, sich ein eigenes Urteil zu bilden und damit auch in einem politischen Sinn selbstständig zu werden. An der Wurzel unseres modernen Selbstverständnisses, im Begriff der Emanzipation, findet sich also eine Verschränkung von politischem und rationalem Anspruch.
Diese Verbindung stellt die Postmoderne auf verschiedene Weise in Frage. Im Feminismus (zum Beispiel) mit dem Zweifel, dass es möglich ist, „die Frau“, die der Feminismus befreien will, zu definieren. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat in den 1980er Jahren die Postmoderne-Debatte (die gar nicht so richtig eine Debatte war, aber sie hat trotzdem das Bild der Postmoderne im deutsch- wie englischsprachigen Raum nachhaltig geprägt) auf eine ganz eigene Weise gedeutet. Auch hier geht es weniger um die philosophischen Details als um eine interessante Perspektive, die ich auch in Bezug auf den Feminismus für hilfreich halte: Zwar teilte Rorty mit der Postmoderne den Ansatz, dass wir nicht von sicheren Wahrheiten ausgehen können. Das hinderte ihn aber nicht daran, sehr klare politische Forderungen zu erheben. Er fasste es auch einmal so, dass seine Differenzen mit Habermas – obwohl philosophisch grundsätzlich – „bloß philosophische“ seien (Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 120). Damit meinte er: Vielleicht sollten wir uns weniger mit der Fundierungsfrage beschäftigen, mit der Frage, was wahr ist – und stattdessen mit der Frage, was wir wollen und wohin wir wollen. Das heißt, den Diskurs entschieden politisch zu führen.
Einen ähnlichen Ansatz wählt Marysia Zalewski in ihrem Buch Feminism after Postmodernism (2000), die immer wieder die Frage stellt: Was macht es für einen praktischen Unterschied, welche Theorie ich habe? Und sie stellt fest, dass es unter den „modernen“ Feministinnen große Unterschiede sowohl in der Weltanschauung als auch in den angestrebten politischen Zielen gibt. Dass aber hingegen der „postmoderne“ Feminismus in seiner strukturellen Art der Kritik und in seinen Forderungen durchaus anschlussfähig für manche „modernen“ Strömungen ist. Dass es also womöglich weniger auf die vertretene Metaphysik, Epistemologie und Anthropologie ankommt, und vielmehr auf die konkreten kritischen Ansätze. Man könnte es doch auch so betrachten: Die Destabilisierung der Unterdrückung von Frauen ist ein gemeinsames Ziel aller Feministinnen. Und wenn die „postmodernen“ einen anderen Blickwinkel einbringen als z.B. die sozialistischen, dann bereichert das das Bild und erweitert unsere Möglichkeiten, Kritik zu üben.
Kritik kann ansetzen an fehlenden Rechten, sie kann ansetzen an gesellschaftlicher Benachteiligung von Mädchen und Frauen, an der Gewalt, die sie immer noch erfahren, weil sie weiblich (gelesen) sind, allgemein am Ausschluss von Menschen, die nicht bestimmten Normen entsprechen, an verletzender Sprache und an Wissen, das unser Weltbild prägt. Zalewski nennt das eindrückliche Beispiel, dass erst die Verbreitung von Ultraschalluntersuchung dazu führen konnte, den Embryo als „Individuum“ zu imaginieren, was Folgen für die Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen hat, ebenso wie überhaupt für die Konstruktion dessen, wie sich eine schwangere Person verhalten soll, wie sie sich fühlen soll, usw.
All das zu verschränken, halte ich persönlich für den vielversprechenderen Weg als den Kampf darüber, was die „reine Lehre“ sei. Dem Feminismus wird nachgesagt, er würde sich heutzutage bloß um Identitäten und Befindlichkeiten drehen. Warum diese Aspekte für den politischen Kampf durchaus relevant sind, konnte ich hoffentlich anhand der Wirkmacht von Normen für die gesellschaftliche Machtverteilung zeigen. Aber es geht um Politik im Feminismus, um Macht. Sich im Namen der „wahren Wahrheit“ dogmatisch zu verkeilen ist dagegen vor allem ein Weg in die Ideologie.
Darüber hinaus gibt es aktuell sehr wohl starke Stimmen, die auf den materiellen Grundlagen feministischer Kämpfe beharren: Auf der materiellen Benachteiligung aller, die Sorgearbeit leisten, auf der nach wie vor mangelnden Anerkennung für diese Arbeit; auf der Ungerechtigkeit von Reproduktion (bzw. der Ungleichverteilung reproduktiver Rechte), auf den Zumutungen des Kapitalismus, kurz: auf der strukturell nach wie vor privilegierten Norm weiß, männlich und nicht zu jung zu sein, die sich auch in der globalen Verteilung politischer Entscheidungsmacht spiegelt.
Es könnte dem Feminismus also eine Zukunft der Allianzen und der Solidarität bevorstehen, trotz allen Geraunes um einen Backlash; der Allianzen mit all jenen Bewegungen, die sich der Zerstörungskraft des Patriarchats entgegenstellen – manche aus ideologischen Gründen, andere vielleicht aus Mitgefühl oder aus schierer Notwendigkeit. Denn das moderne Selbstverständnis des omnipotenten Mann-Subjekts, das sich die Natur und die Welt unterwirft, ist, Feminismus hin oder her, ganz materiell dabei, Natur und Zivilisation auf dem gesamten Globus zu zerstören und kann daher auf Dauer gar nicht bestehen bleiben.
Das war der letzte Teil der Serie zum Feminismus. Jetzt mache ich erstmal ein bisschen Sommerpause.
Nach- und Weiterlesen…
Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller, Lea Haneberg (Hg.): materializing feminism. Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität. Münster: Unrast 2018.
Judith Butler: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“. In: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 31–58.
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988.
Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. (Originaltitel: Contingency, irony, and solidarity, 1989)
Marysia Zalewski: Feminism after Postmodernism. Theorising through practice. London/New York: Routledge 2000.
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- Zum Beispiel ist es immer eine Meldung wert, wenn irgendwo mehr Frauen als Männer in einer Machtposition sind (bspw. die aktuellen Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag). Dass in den allermeisten Fällen höchstens Parität herrscht, meist aber Männer in der Mehrzahl sind, ist nach wie vor „normal“ und hat damit keinen Nachrichtenwert. ↩︎