James: Der Pragmatismus (3) – Grundannahmen


„Der Pragmatismus“

von William James

Zum Mitlesen (leider nur im englischen Original): Volltext bei Project Gutenberg


Mein Anspruch, Theorien zwar verständlich, aber dabei nicht oberflächlich zu behandeln, führt zu Texten, die eigentlich zu lang sind für das Internet. Deshalb bin ich in letzter Zeit dazu übergegangen, die Texte zu unterteilen und ein Thema umfassend in mehreren Texten zu behandeln. Hier kommt der dritte Teil einer Serie zu William James‘ Buch „Der Pragmatismus“ – einem zentralen Werk aus der Frühphase der philosophischen Strömung Pragmatismus. (Du kennst die ersten Teile noch nicht? Dann hier entlang: Teil 1; Teil 2.)

In diesem Teil schauen wir uns die Grundannahmen von James‘ Buch und die in ihm steckenden wissenschafts-strategischen Impulse an.

(Weil ich diese Woche zu viele andere Verpflichtungen habe, erscheint der vierte Teil zum Pragmatismus erst im Dezember.)


Den Dualismus überwinden – das wissenschafts-strategische Programm des Pragmatismus

Das wissenschaftspolitische Ziel William James’ ist ziemlich klar: Er will den Pragmatismus mit seinem Buch öffentlichkeitswirksam als neue Antwort auf alte philosophische Fragen präsentieren, indem er ihn als Mittelweg darstellt, der alte Gräben der Philosophie zuschüttet. Da im 20. Jahrhundert wissenschaftstheoretisch und philosophiegeschichtlich tatsächlich eine Menge passieren wird und sich das schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzeichnet, trifft James damit 1906/07 durchaus den Zeitgeist.

Das 20. Jahrhundert ist wissenschaftstheoretisch gesehen eins, in dem viele (alte) Gewissheiten in Frage gestellt werden und insbesondere der Wahrheitsbegriff ins Wanken gerät. Das ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal dieser Zeit, auch früher schon gab es Konjunkturen von Skeptizismus und der Infragestellung des Althergebrachten. Dennoch passt der Pragmatismus mit seiner Stoßrichtung in die theoretische Unterströmung seiner Zeit.

Das Buch selbst ist, da es auf einer Vorlesungsreihe beruht, in acht relativ gleich lange Kapitel unterteilt, die – man könnte sagen: didaktisch durchdacht – das Thema Pragmatismus einführen und anschließend einzelne Themen dieser Philosophie herausgreifen und kapitelweise behandeln. Es ist also nicht schwer, sich darin zurechtzufinden. Das Programm ist klar: Pragmatismus wird als der aufgehende philosophische Stern präsentiert, der endgültig die traditionellen Probleme der Philosophie zu lösen angetreten ist. Dabei wird die Bedeutung Peirces als Begründer des Pragmatismus herausgestrichen (insbes. auf S. 28f.).

Temperamente

Die erste Vorlesung heißt also folgerichtig „Das gegenwärtige Dilemma in der Philosophie“. Es ist wissenschaftshistorisch gesehen ein alter Hut, die bisherige Philosophie als fehlerhaft und den eigenen Entwurf als die alle Probleme lösende Alternative zu präsentieren. Genau so muss man sich und die eigene Theorie darstellen, wenn man es zu etwas bringen will in den Ruhmeshallen der Philosophie.

Aber hier wird es spannend. Nicht der revolutionäre Duktus, mit dem das Neue verkündet wird, sondern die philosophische Annahme, die einer solchen Präsentation zugrunde liegt, ist interessant. Und bei James ist es Folgendes: Er interpretiert die Philosophiegeschichte als eine der kaum überwindbaren Spaltung zwischen Rationalismus und Empirismus. An dieser Interepretation ist einiges dran, denn tatsächlich kann man bei vielen großen Philosoph*innen die Bevorzugung der einen oder anderen Richtung erkennen. Interessant ist aber, wo er die Ursache für diese Spaltung sieht: Die Grundentscheidung zwischen Rationalismus und Empirismus hält James für eine Sache des Temperaments.

Er sagt: Ja, die Philosoph*innen der Geschichte haben sich immer bemüht, ihre Theorien gut und „objektiv“ zu begründen. Sie haben versucht, ihr Temperament außen vor zu lassen. Aber das ist ihnen in Wirklichkeit nicht gut gelungen. Ihr Temperament, das heißt, ihre persönlichen Vorlieben und Bedürfnisse, bestimmt die Grundannahmen, die sie über die Welt haben. Diese Grundannahmen sind sozusagen die Brille, durch die sie die Welt betrachten. Und diese Grundannahmen sind es auch, die die Grundlagen ihrer jeweiligen Philosophien prägen. Philosophien sind also, so James, stark durch die jeweiligen persönlichen Temperamente der Philosoph*innen geprägt.

James verwendet einige Seiten darauf, Empirist*innen und Rationalist*innen näher zu bestimmen. Er arbeitet zwei sehr verschiedene Typen heraus, deren Verhältnis er so präsentiert:

„Dabei bedeutet ‚Empirist‘ den Freund der Tatsachen in ihrer lebendigen Mannigfaltigkeit und ‚Rationalist‘ den Anhänger abstrakter und ewiger Prinzipien. Nun kann freilich niemand eine Stunde leben, ohne sowohl Tatsachen als auch Prinzipien zu beachten, und so liegt der Unterschied nur darin, daß man mehr Nachdruck auf das eine oder das andere legt. Aber dieser Unterschied im Nachdruck ist geeignet, die schärfsten Antipathien hervorzurufen.“
James: Der Pragmatismus, S. 5, Herv. J.W.

Diese von James beobachteten und in ihrer ganzen Schärfe ausgemalten Spaltungen und Grabenkämpfe nimmt er zum Anlass, seine Philosophie, den Pragmatismus, als den Mittelweg für diese Spaltung zu präsentieren – obwohl er ja selbst anerkennt, dass die meisten Menschen eher Mischformen aus beiden Strömungen anhängen.

Das Begründungsproblem

James weist hier mit seiner Behandlung der Temperamente auf eine Grundproblematik der Philosophiegeschichte hin, die in der Frage nach der Begründung von Theorien liegt. Er deutet an, dass in der Philosophie nur eine gute – das heißt irgendwie „objektive“ Begründung – für eine Theorie anerkannt wird. Es ist aber durchaus offen und Gegenstand der Diskussion, ob es eine gut argumentierte, „objektiv“ zugängliche letzte Begründung (für eine Behauptung, für eine Theorie) überhaupt geben kann.

Denn wo führt es hin, wenn wir für unsere Theorien begründungsmäßig immer weiter zurückfragen, also für jede These eine Begründung fordern, dann dafür wieder eine Begründung usw.? Die Begründungsproblematik ist seit der Antike Thema in der Philosophie, in jüngerer Zeit hat sich Hans Albert (1921–2023) damit befasst und das Problem als „Münchhausen-Trilemma“ bezeichnet. Kurz gesagt: Wenn wir nicht in einem Zirkelschluss landen und auch nicht unendlich zurückfragen wollen, müssen wir früher oder später ein Dogma setzen – eine Überzeugung, eine Grundannahme, die nicht weiter begründet wird. Auf diesem Dogma baut dann die gesamte Theorie auf, es kann aber selbst nicht begründet werden.

Diese Problematik ist lange bekannt und es werden ganz unterschiedliche Antworten darauf gefunden. In der philosophischen Praxis spielt die Begründungsfrage aber meist keine Rolle. Man tut so, als sei alles begründ- und hinterfragbar und alle Behauptungen, die aufgestellt werden, seien sorgfältig ausargumentiert. James sagt jetzt: Nun ja, es wird immer behauptet, unsere philosophischen Haltungen seien gut begründet – aber in Wirklichkeit liegt der letzte Grund für unsere philosophischen Grundüberzeugungen (sind wir Empirist*in oder Rationalist*in?) in unserem Temperament.

Da James auch Psychologe war, liegt es nahe, dies als Begründung dafür heranzuziehen, dass er hier eine letztlich psychologische Begründung für die Grabenkämpfe in der Philosophie vertritt. Wahrscheinlich stimmt das zum Teil. Ich glaube aber, diese Argumentation mit den Temperamenten hat auch noch einen anderen Grund, und damit sind wir wieder bei der (wissenschaftspolitischen) Strategie des Pragmatismus: Indem James mehrere Typen von Menschen charakterisiert, ordnet er im Grunde den Theorien selbst einen Charakter zu.

Münchhausen-Trilemma und Archimedischer Punkt

Das Begründungsproblem ist so alt wie die Geschichte der Philosophie. Der Philosoph Hans Albert (1921–2023) hat es systematisch analysiert und „Münchhausen-Trilemma“ genannt. Wie Karl Popper ist Albert dem so genannten Kritischen Rationalismus zuzuordnen, der in seinen Grundlagen der pragmatistischen Philosophie durchaus nahesteht.
In der Geschichte über den Baron Münchhausen zieht dieser sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf. Eine ähnlich schwierige Situation hat zu bewältigen, wer eine sichere Begründung für eine Aussage sucht: Man muss weiter zurück fragen, für die Begründung der Aussage wieder eine Begründung geben usw. Nur: Wie soll dieses Spiel jemals enden?
Albert sagt, es gibt drei Möglichkeiten: 1. infiniter Regress – das heißt, man muss immer weiter zurückfragen und kommt nie zu einem endgültig sicheren Abschluss und damit zu einer sicheren Begründung; 2. Zirkelschluss – das heißt, man argumentiert „im Kreis“ und zieht irgendwann etwas als Begründung heran, das vorher eigentlich erst begründet werden sollte; 3. Abbruch des Verfahrens – an einem Punkt entscheidet man sich, nicht weiter zurück zu fragen und ein Dogma zu setzen. Das ist z.B. das Temperament, auf das sich James bezieht.

Mit dieser Darstellung der Begründungsproblematik schließt Albert aus, dass es einen „Archimedischen Punkt“ geben kann, der den Endpunkt einer erfolgreichen Begründung bilden würde. Als „Archimedischer Punkt“ (benannt nach dem antiken Philosophen Archimedes) wird ein unbeweglicher, absolut sicherer Punkt bezeichnet, ein Fundament im Denken, von dem aus ein sicherer Begründungsaufbau möglich ist. Einen solchen glaubte René Descartes mit seinem „Ich denke, also bin ich.“ gefunden zu haben. Albert hält das für unmöglich und auch James’ Ausführungen lassen vermuten, dass er begründungstheoretisch eine ähnliche Auffassung vertritt.

Die Rationalist*innen seien zartfühlend, idealistisch, optimistisch, religiös und dogmatisch; die Empirist*innen grobkörnig, materialistisch, pessimistisch, irreligiös, fatalistisch und skeptisch (S. 8) – automatisch fällt dasselbe Licht auch auf die Theorien selbst. Am Sympathischsten ist da natürlich die Figur, die beides verbindet, die weder in die eine noch in die andere Richtung verbohrt ist. Und das ist, wie könnte es anders sein: der Pragmatismus.

Und es ist ja auch einleuchtend: Am lebendigsten scheint die Theorie zu sein, die sich anpassen kann, die aus der einen Perspektive sehen kann, dass die Welt eine Einheit ist (der so genannte „Monismus“ wird als rationalistische Überzeugung verstanden) und aus einer anderen, dass sie gleichzeitig eine Vielheit ist (der „Pluralismus“ wird als empiristische Überzeugung verstanden). James spielt hier mit der sprichwörtlichen Weltfremdheit der Philosophie, die er in den buntesten Farben ausmalt – und ergreift gleichzeitig Partei für die Philosophie, die bei den „einfachen Leuten“, bei denen mit dem gesunden Menschenverstand, seiner Ansicht nach auf die größte Zustimmung stößt. Diesen einfachen Leuten bestätigt er, dass es schon in Ordnung ist, mittels Gefühlen darüber zu entscheiden, welche Philosophie man für die richtige hält:

„Letzten Endes werden, ich wiederhole es, alle unsere Philosophien durch solche Gefühle beurteilt werden. Endgültig siegreich wird diejenige Art der Weltbetrachtung sein, die auf die normalen Geister den stärksten Eindruck macht.“
James: Der Pragmatismus, S. 24

Dass solche Argumentationsmuster auch Populismus legitimieren können, ist, glaube ich, deutlich zu erkennen. Doch lassen wir uns erst einmal darauf ein. Im nächsten Text wird es konkreter um das Ausbuchstabieren des philosophische Gehalts des Pragmatismus bei James gehen: Sein Wahrheitsbegriff ist vermutlich der am stärksten rezipierte Teil seiner Theorie und hat das Bild des Pragmatismus nachhaltig geprägt.

Wahrheit wird dabei an Erfolg gekoppelt und eine solche Ansicht hat natürlich Gegenwehr verursacht. Doch wie bei der Sache mit den Temperamenten reagiert der Wahrheitsbegriff auf ein grundlegendes philosophisches Problem: Bei den Temperamenten ist es die Begründung von Grundlagen der Theorie, bei der Wahrheitstheorie werden philosophische Probleme in Bezug auf die Struktur der Welt und ihre Wahrnehmung aufgenommen.

Betrachtet man es so, ist der Pragmatismus wirklich eine neue Art, Philosophie zu betreiben. Er nimmt alte philosophische Probleme auf und versucht, sie mit einem lebensweltlichen und handlungsorientierten Zugang neu zu untersuchen. Freut euch also auf den nächsten Text!


Noch ein paar persönliche Worte

Das Problem, wie sich Philosophien begründen lassen, ist mir selbst in dieser Deutlichkeit das erste Mal bei William James begegnet. Das war während meines Studiums. Und es hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Natürlich ist James nicht der einzige, dem es aufgefallen ist, dass über die eigenen Grundannahmen in der Philosophie oft verschämt geschwiegen wird. Oder auch, dass sich Philosoph*innen die eigenen Grundannahmen oftmals nicht eingestehen und sich über die Vorurteile, die in diese Grundannahmen eingeflossen sind, keine Rechenschaft ablegen. Darum habe ich mich selbst intensiv mit der Grundlegungsthematik und mit Philosophiekritik befasst, die an diesem Punkt ansetzt.

All das ist zusammengeflossen in meiner Dissertation, in der ich die Frage behandelt habe, wie verschiedene politische Philosophien mit der Grundierungsfrage umgehen und wo sich uneingestandene Vorurteile herausarbeiten lassen. Aber die Wurzel meiner Faszination mit dieser Frage, die in der akademischen Philosophie erschreckend oft außerhalb des Blickfelds liegt, liegt wohl bei diesem packenden Buch von William James.


Originaltexte

William James: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden. Hamburg: Meiner 1994.
Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: Mohr Siebeck 1968.

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